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Vertraute Gesichter, vermischte Gefühle

■ Der Streit der vergangenen Jahrzehnte ist begraben, das Mißtrauen bleibt: China und die Sowjetunion kehren zur Normalität zurück

Seit vor 34 Jahren der Vorsitzende Mao als letzter chinesischer Parteichef in Moskau weilte und vor Studenten seine große Rede „Der Ostwind wird über den Westwind siegen“ hielt, hat sich bekanntlich die Windrichtung gedreht. Das Forum der internationalen Arbeiterbewegung, auf dem die Kommunisten Chinas und der Sowjetunion seit Ende der 50er Jahre um die richtige Interpretation des Marxismus stritten, ist ebenso verschwunden wie das sozialistische Lager. Heute ist der Streit der vergangenen Jahrzehnte ausgekämpft. Beide Weltmächte sind im Westdrift, wenngleich unter unterschiedlichen Prämissen und Zielsetzungen. Sehen doch die chinesischen Kommunisten die demokratischen Revolutionen in Osteuropa als das Werk arbeiter- und volksfeindlicher Cliquen. Deng Xiaoping will, was auch der Traum der abgetretenen Machtoligarchien Osteuropas war: westliche Modernisierung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Parteistaats.

Aber so beunruhigend der Zerfall realsozialistischer Herrschaft in Osteuropa sein mag, die Bewertung dieser Prozesse erfolgt nur noch in parteiinternen Dokumenten. Die KP Chinas hat vor zehn Jahren beschlossen, die Differenzen zur Sowjetunion auf ihren außenpolitischen Kern zu reduzieren — Afghanistan, Kambodscha, die bedrohte Nordgrenze. In dem Maße, wie sich hier Annäherungen abzeichnen, eröffnen sich Zonen ökonomischer wie politischer Kooperation. Die einst als kriegslüsterne Supermacht gebrandmarkte Sowjetunion wird als potentielle Gegenmacht zur USA gesehen.

Pragmatismus, die regionale Interessenlage und nicht zuletzt das Bedürfnis nach Machterhalt bestimmen heute Chinas Verhältnis zur Sowjetunion. Aber das bedeutet nicht, daß in den Augen der Führung die Vergangenheit keine Lehren mehr bereithielte. Mehrere Kadergenerationen sind durch die wechselvollen Beziehungen zur KPdSU geprägt worden. Nicht nur in den offiziellen Geschichtsinterpretationen, auch im „kollektiven Gedächtnis“ der Partei hat sich eine ambivalente Erfahrung abgelagert: die Sowjetunion als — wenngleich halbherziger — Helfer im Befreiungskrieg, bei der Machtergreifung und in der ersten Etappe des sozialistischen Aufbaus. Und die Sowjetunion als besserwisserischer Vormund, stets bereit, sich in die inneren Belange der Partei einzumischen, als hochmütiger und dabei törichter Ratgeber.

Die Ursprünge dieser Ambivalenz reichen in die zwanziger und dreißiger Jahre zurück. Die chinesischen Kommunisten wurden noch zu einem Zeitpunkt auf das Bündnis mit Chiang Kai-shek verpflichtet, als es absehbar war, daß der Generalissimus nur auf eine Gelegenheit lauerte, mit den verhaßten Roten abzurechnen. Auch später sah Stalin in seinen chinesischen Genossen hauptsächlich das Drohpotential, mit dessen Hilfe er die Politik der Guomintang (die nationalchinesische Partei) zu beeinflussen hoffte. Abgesandte der Komintern und deren chinesische Zöglinge wollten in den revolutionären Stützpunktgebieten Ende der 20er Jahre zur „Bolschewisierung“ der chinesischen Partei ausholen. Das Unterfangen endete fünf Jahre später im militärischen und politischen Desaster. Der wesentlich durch die armen Bauern geprägte Charakter der chinesischen Revolution blieb der Komintern und den Sowjets immer fremd, unheimlich.

Die Auseinandersetzungen, die nach einer relativ freundschaftlichen Phase zwischen beiden Parteien zehn Jahre nach dem Sieg der Revolution begannen, knüpften an die alte Konfliktlinie an — den Kampf gegen Paternalismus und Einmischung —, transportierte sie aber auf die Ebene theoretischer und strategischer Grundsätze. Chruschtschows „Revisionismus“, sein halbherziger Versuch, das Resümee kommunistischer Praxis seit 1917 zu ziehen und die sowjetische Politik mit den Realitäten kapitalistischer Modernität zu konfrontieren, nahm keinerlei Rücksicht auf die politische Situation Chinas.

Die Hinwendung der Sowjetunion zu den USA und zu einer aktiven Politik der friedlichen Koexistenz wurde von Mao Zedong als Prinzipienverrat gesehen, als Kapitulation vor dem Imperialismus, als erster Schritt der kapitalistischen Restauration. Er antwortete mit der „Generallinie“ des Vertrauens auf die eigene Kraft und mit der Vision eines beschleunigten Übergangs zum Kommunismus auf der Basis der Volkskommunen. Dem entsprach eine Praxis verschärften Klassenkampfs gegen die alte wie gegen Elemente einer neuen Bourgeoisie, die er im Parteiapparat nisten sah. In der Kulturrevolution eklatierte dieser „Kampf zweier Linien“ im Delirium, dem eine Generation von Intellektuellen zum Opfer fiel. Für die sowjetischen Kommunisten war der chinesische Weg blanker Voluntarismus, unterfüttert mit gefährlichen Weltmachtambitionen. Der für viele Kommunisten so verführerische Gedanke, den Kommunismus hier und jetzt verwirklichen zu können, widersprach nicht nur dem Schematismus des sowjetischen Denkens, seiner Fetischisierung historischer Gesetzmäßigkeiten. Mit seiner antibürokratischen, egalitären Rhetorik gefährdete er auch die Machtprivilegien der herrschenden Schichten in der Sowjetunion. Schließlich sahen sich die Sowjets durch den Annäherungsprozeß Chinas an die USA in ihrem tiefsitzenden Einkreisungskomplex bestärkt.

Deng Xiaopings Abrechnung mit der Kulturrevolution und die dosierte Öffnung zum Westen ließ das Pendel nicht wieder auf den Ausgangspunkt des ersten Jahrzehnts nach 1949 zurückschlagen. Aus der desillusionierten, „verlorenen“ Generation der Rotgardisten rekrutierten sich die künftigen Dissidenten und Radikalreformer, nicht aber eine Schicht von Bewunderern des „sowjetischen Wegs“. Freilich erinnern sich die Kader der „dritten Generation“, die jetzt in Führungspositionen aufsteigen, ihrer Ausbildung in der Sowjetunion. Lange aufs angelsächsische Gleis gesetzte Lehrer der russischen Sprache nehmen ihre ursprüngliche Tätigkeit wieder auf. Die Anfang der 60er Jahre von den sowjetischen Experten im Stich gelassenen Industrieanlagen können auf späten Besuch aus ihrem Herkunftsland rechnen. Aber daß die chinesische Ökonomie sich unter die Fittiche einer drittklassigen sowjetischen Modernisierung begeben wird, ist nicht zu erwarten.

Bleibt die Politik. Denkbar, daß China und die Sowjetunion sich im Zeichen einer zunehmenden Distanz zu den USA näherkommen. Nicht auszuschließen sogar, daß eine nach- gorbatschowsche Sowjetunion die westliche Grundorientierung aufgibt und sich dem asiatisch-pazifischen Raum zuwendet. Vertreter einer solchen Linie haben sich schon zu Wort gemeldet. Heute aber, anläßlich des Moskauer Staatsbesuchs, werden die Gespräche nüchtern, der Stil geschäftsmäßig und die Atmosphäre distanziert freundlich sein, mit einem Unterton sehr alten Mißtrauens. Christian Semler

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