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Skurril und wunderbar

■ Erzählung des Spaniers Javier Tomeo

Seien Sie unbesorgt, Bautista, und hören Sie auf zu zittern — sagte mir an jenem Morgen der Herr Marquis. Was ich Ihnen auftragen werde, ist einfach. Ich gehöre nicht zu denen, die Unmögliches verlangen. Sehen Sie diesen Brief hier. Dem Anschein nach ein Brief wie jeder andere. Für mich ist er jedoch von großer Wichtigkeit. Sie müssen ihn dem Herrn Grafen persönlich übergeben.“

Am Ende der Erzählung Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief wissen wir nicht, was aus dem Herrn Marquis geworden ist. Wir wissen nicht, ob der Graf den Brief jemals erhalten hat, und auch das Schicksal des getreuen Dieners Bautista ist uns unbekannt. Wir haben einhundert Seiten lang den äußerst umsichtigen und unvergleichlich weitschweifigen Instruktionen gelauscht, die der Marquis seinem Diener für den etwa zweistündigen Fußmarsch zum Grafen mit auf den Weg gibt. Wir haben einiges über den Inhalt des Briefes, manches über seinen absonderlichen Verfasser und eine ganze Menge über unsere absurde Welt und die Einsamkeit ihrer Bewohner erfahren.

Das Briefeschreiben, wenn wir überhaupt zu jenen gehören sollten, die noch korrespondieren, wird uns nun für eine Weile wohl weniger leicht von der Hand gehen. Wahrscheinlich werden wir uns in Kürze dabei ertappen, daß auf unseren Briefbögen die Zwischenräume zwischen den Wörtern immer kleiner werden, und vielleicht werden sie auch ganz verschwinden. Womöglich werden wir bald schon alle kopulativen Konjunktionen weglassen und auch den Umlauten nur mehr ein Pünktchen gönnen statt der üblichen zwei. Und auch dieses nunmehr vereinsamte Pünktchen werden wir vielleicht nicht an seinem angestammten Platz belassen, sondern es kurzerhand über dem unmittelbar vorangehenden oder nachfolgenden Buchstaben postieren. Unsere Handschrift wird dann gewiß unendlich klein geworden sein, so daß sie auch mit einem Mikroskop kaum zu entziffern ist. Und am Ende ist unser Brief dann nur noch „ein einziges unendlich langes Wort, das nichts bedeutet“. Nun haben wir tatsächlich, so werden wir kopfschüttelnd feststellen, einen „unerhörten Brief“ geschrieben. Ganz wie der Herr Marquis.

Wenig später schon werden wir uns, weil kein treuer Bautista in unseren Diensten steht, vor einem Briefkasten wiederfinden, den Brief in der Hand, und uns fragen, wie es nur soweit kommen konnte. Ängstlich wird unsere Hand mit dem Brief vor dem Briefkastenschlitz zurückschrecken, weil wir die gefährlichen und wundersam-wirren Wege fürchten, auf denen unsere sinnlose Botschaft verlorengehen könnte. Und dann werden wir uns der Warnung des Herrn Marquis erinnern, die er seinem Diener Bautista auf den Weg durch das weitläufige Schloß des Grafen mitgegeben hat: „Ich sage Ihnen schon jetzt, daß der Weg lang sein wird. Sie werden Salons durchqueren, etliche Treppen hinabsteigen, andere wieder hinaufsteigen, sich erst nach rechts, dann nach links wenden und etwa nach einer halben Stunde Fußmarsch ein kleines, von einigen Öllampen erhelltes Zimmer betreten, dessen Wände mit schönen, chinesischen Paneelen verkleidet sind. Sie werden den Raum durch die schmale Tür verlassen, die hinter einem Vorhang verborgen ist, durch weitere Korridore gehen, sich erneut bald nach rechts, bald nach links wenden und dabei womöglich zu begreifen beginnen, daß es niemals einfach ist, zu der Person zu gelangen, die wir suchen. Die Herzen derer, die wir brauchen, befinden sich stets im Zentrum eines Labyrinths.“

Stundenlang werden wir so vor dem Briefkasten stehen. Gedankenverloren. Und es wird uns alles wieder einfallen, was wir bei Javier Tomeo gelesen haben. Hubert Spiegel

Javier Tomeo: Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief. Aus dem Spanischen von Elke Wehr. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 102 Seiten, 19,80 DM

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