: Leben im Minus
■ Nichts ist einfacher, als auf Pump zu konsumieren. Die private Verschuldung führt jedoch so manchen in eine scheinbar ausweglose Situation
Nichts ist einfacher, als auf Pump zu konsumieren.
Die private Verschuldung führt jedoch so manchen in eine scheinbar ausweglose Situation. Von KATRIN SCHRÖDER
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ieviel Egon Hölder, Präsident des Statistischen Bundesamtes, auf die hohe Kante gelegt hat, war im hauseigenen Bericht über die Vermögenssituation der Haushalte in den alten Bundesländern nicht vermerkt. Denn in der Statistik geht's um den Durchschnitt. Und der Durchschnitt darf sich freuen, denn er verfügte 1989 über ein Nettogeldvermögen in Höhe von 23.500 D-Mark — Tendenz steigend. Aber wer ist schon gerne mittelmäßig.
Für fast 20 Prozent aller Haushalte aber liegt das Mittelmaß auf einer anderen Ebene: Sie haben sich für Konsumzwecke verschuldet. Für sie heißt der Durchschnitt: minus 11.280 DM.
Egon Hölder findet das nicht sonderlich bedenklich. Mit steigenden Einkommen wüchsen eben die Bedürfnisse, man wolle sich nicht einschränken und kaufe eben auf Kredit. Wieder geht die Statistik dem Durchschnitt auf den Leim, denn bei der Abzahlung von Verbraucherkrediten setzt das individuelle Einkommen die Grenze des Möglichen — und nicht die Statistik des Bundesamtes. Dramatisch wird es nämlich dann, wenn man erst mangels Vermögen ein Auto auf Pump kauft, sich das eigene Einkommen zum Beispiel auf die Höhe von Arbeitslosengeld reduziert und dann nur noch das „Unvermögen“ bleibt, die Raten fristgemäß zu zahlen. Das Verschuldungskarussell beginnt, sich zu drehen, und es droht die Insolvenz: die private Pleite. Noch einmal Statistik: 1,2 Millionen Haushalte konnten 1990 ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen. „Sozial beginnt die Überschuldung aber bereits, wenn die Leute anfangen, unter ihren Zahlungsverpflichtungen zu leiden“, so Ulrich Kranz, Schuldenberater beim Deutschen Familienverband.
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en Weg in die Verschuldung ebnet unsere gut funktionierende Geldwirtschaft mit ihrem riesigen Angebot an Finanzdienstleistungen. Erst kaufen, dann zahlen — natürlich inklusive der Zinsen. Ein Beispiel: Otto Normalverbraucher heiratet Erika Mustermann. Zuerst einigen sich beide auf den Nachnamen Muster-Verbraucher, danach suchen sie den Wohnzimmerschrank und die Schlafzimmergarnitur aus. Sie klären bei der Bank, bei der jeden Monat ihre Einkommen (Otto: 1.850 netto, Erika: 1.600 netto) verbucht werden, den Kredit ab. Nach vier Wochen werden die Möbel geliefert. Die Ehe beginnt glücklich. Und das hätte auch bis zur Geburt der Urenkel so bleiben können, wenn nicht zum Beispiel Erika ihren Job verloren hätte, weil die Firma Konkurs machte — oder Otto nicht berufsunfähig geworden wäre, wegen eines privaten Unfalls. Oder beide nicht festgestellt hätten, daß sie sich nicht mehr lieben und nun zwei Wohnungen finanzieren müssen.
„Um im Klischee zu bleiben, könnte man davon ausgehen, daß er noch einen Ratenvertrag für sein 15.000-Mark-Auto mit in die Ehe gebracht hat“, sagt Ulrich Kranz, „aber den durchschnittlichen Schuldner gibt es nicht.“ Individuell ist die Situation völlig unterschiedlich, wie zum Beispiel die Anzahl der Gläubiger, die Höhe der Schuld und der Raten sowie das Ausmaß des unerwarteten finanziellen Einbruchs.
Beim Rückstand von nur zwei Raten kann das Geldinstitut den Kredit kündigen. Das bedeutet, daß die Zahlung des vollständigen Betrages der noch ausstehenden Schuld sofort fällig wird und außerdem zusätzliche Kosten anfallen. Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Also bleibt die Schuld erst mal bestehen, und das Kreditinstitut berechnet Verzugszinsen. Nach dem alten Verbraucherkreditgesetz, das für alle Verträge gilt, die vor dem 1.1.91 abgeschlossen wurden, wird dann jede Zahlung des Schuldners erst mal auf die Kosten und dann auf die fälligen Verzugszinsen angerechnet. Erst wenn diese gezahlt sind, wird die Rate mit der Restschuld verrechnet. Es kann also passieren, daß nach jahrelangen Zahlungen die Schuld keinen Pfennig geringer ist.
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ie Gesetzesänderung — gültig für Verträge, die nach dem 1.1.91 geschlossen wurden — sorgt nun dafür, daß nach den Kosten erst die Schuld und dann die Verzugszinsen mit der jeweiligen Rate getilgt werden. Ulrich Kranz ist allerdings skeptisch gegenüber dieser Neuregelung: „Die Kreditinstitute können jetzt die auflaufenden Verzugszinsen noch einmal mit einem Zins belegen. Durch diese Zinseszinsen läßt sich an Beispielen durchrechnen, daß die neue gesetzliche Regelung weder zeitlich noch in bezug auf die Höhe der Zahlungen insgesamt einen Vorteil für die Verbraucher bringt.“
Eine Schuldnerberatungsstelle sollte man spätestens aufsuchen, sobald man eine Rate nicht zahlen kann. Die Schuldenberater entwerfen zuerst gemeinsam mit den Kreditnehmern einen realistischen Haushaltsplan. Mit dem Kreditinstitut können dann neue Zahlungsbedingungen ausgehandelt werden. So kann zum Beispiel eine Kreditkündigung verhindert, eine längere Laufzeit mit niedrigeren Raten oder auch ein Teilerlaß der Schuld vereinbart werden.
Solche Vereinbarungen können auch für den Gläubiger gegenüber einer möglichen Kreditkündigung und anschließender Pfändung von Vorteil sein. Denn das Einkommen, mit dem der verschuldete Haushalt nach einer Pfändung auskommen muß, liegt vielfach unter den Sozialhilfesätzen. Ist die Schuld nun entsprechend hoch, lohnt sich der tägliche Gang zur Arbeit nicht mehr, weil der Kreditnehmer frühestens nach 30 Jahren mit einer Verjährung rechnen kann. 30 Jahre arbeiten und unter dem Existenzminimum leben — da ist der Gang zum Sozialamt sinnvoller (und die eine oder andere Tätigkeit so nebenher). Der Gläubiger hat dann nichts mehr zum Pfänden und kann unter Umständen völlig leer ausgehen. Es gibt also auf jeden Fall Verhandlungsspielraum.
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n Zukunft soll hochverschuldeten Verbrauchern die Möglichkeit einer Schuldenbefreiung gegeben werden. Ein entsprechender Gesetzentwurf wurde jetzt von CDU-Seite angekündigt. Im Rahmen der Reform des Insolvenzrechts sollen alle „natürlichen Personen“ nach einer siebenjährigen „Wohlverhaltensperiode“ die Möglichkeit der Befreiung von ihren Restschulden erhalten. Die SPD im Bundestag hatte bereits im Oktober 1988 mit einem Antrag zu „Schuldenberatung und Schuldenbereinigung für Verbraucher“ eine Restschuldbefreiung für Konsumenten gefordert.
Nach den Vorschlägen des Bundesjustizministeriums soll der Schuldner sieben Jahre einer zumutbaren Arbeit nachgehen oder sich zumindest darum bemühen. Der pfändbare Anteil des Einkommens fließt in dieser Zeit an einen Treuhänder, der das Geld anteilmäßig an die Gläubiger weiterleitet. Nach sieben Jahren kann das Amtsgericht die Restschuld erlassen.
„Ein Schritt in die richtige Richtung“, so Stephan Hupe, „mehr aber auch nicht.“ Die „Wohlverhaltensphase“ sollte nach niederländischem Vorbild auf drei Jahre verkürzt werden. „Eine GmbH kann man liquidieren, einen Menschen nicht“, hält Stephan Hupe, Vorstandsmitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung, den Bonner Vorschlägen entgegen. Die gesetzlichen Grundlagen müßten deshalb eine Sanierung des privaten Haushalts ermöglichen. „In der Wohlverhaltensphase darf in einem Vierpersonenhaushalt nicht einmal die Waschmaschine kaputtgehen.“ Eine notwendige Neuverschuldung sei dann nicht möglich, und die Sozialhilfe greife nicht bei Haushalten, die mit ihrem Einkommen Gläubiger bedienen.
„Eine Schuldnerberatungsstelle sollte man vor der Kreditaufnahme aufsuchen“, rät Ulrich Kranz. Allerdings reiche die Kapazität der etwa 400 bis 450 Schuldenberatungsstellen in den alten Ländern dafür bei weitem nicht aus. In den neuen Bundesländern sind die verschiedenen Verbände erst beim Aufbau von Beratungsstellen.
Über kostenlose Schuldnerberatungen informieren die Bürgerberatungsstellen von Gemeinden oder Bezirken, die Wohlfahrtsverbände und die Verbraucherzentralen.
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