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»Wir müssen die Heulnische verlassen«

■ 12. Berliner Volksuni in der Humboldt-Universität förderte viel Verbitterung zutage: »Wie im Westen, also auch auf Erden«/ Über 3.000 Besucher — Veranstalter überrascht durch Besucherzahl

Mitte. Was war sie denn nun eigentlich, die Maueröffnung? Eine »schlecht vorbereitete Pressekonferenz«, wie Brandenburgs Sozialministerin Regine Hildebrandt sich ausdrückte, ein »selbsterzeugtes Theatererlebnis«, wie Jens Reich vom Neuen Forum fand, oder die überfällige, selbstbestimmte Befreiung von einem totalitären Regime, wie der stellvertende DGB-Vorsitzende Ulf Fink (CDU) schätzte?

Viel Verbitterung und Desillusionierung über den Vereinigungsprozeß wurden am Pfingstwochenende in der Humboldt-Universität (HUB) deutlich. Die 12. Berliner Volksuni hatte erstmals in den Ostteil geladen, um dort unter dem provozierenden Motto »Wie im Westen, also auch auf Erden« aktuelle Probleme unserer Zeit zu diskutieren. »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern«, mahnt immer noch Karl Marx in der Eingangshalle der HUB und lieferte damit das passende Ambiente für viele Auseinandersetzungen.

»Wir müssen endlich unsere Heulnische verlassen und dürfen nicht selbst den Rückzug antreten«, forderte Jens Reich vom Neuen Forum vehement in der Eröffnungsveranstaltung. »Mit Schwung und guter Laune wird Revolution gemacht.« Und Regine Hildebrandt beklagte unter dem Titel »Vereinigung als Verelendung — wie weiter in den neuen Bundesländern?« die »Konzeptionslosigkeit und ideologische Borniertheit« der Bundesregierung, die verhindert hätte, den Vereinigungsprozeß sozialer und rücksichtsvoller zu gestalten.

»So hatten wir uns das nicht vorgestellt. Eigentlich wollten wir mehr Ideen unserer alten Ordnung herüberretten.« Viele der knapp 3.000 Besucher der Volksuni waren aus dem Ostteil der Stadt gekommen, um ihrer Verzweiflung Luft zu machen. Auffallend konkret aufgrund der Aktualität viele der angebotenen Veranstaltungen: Arbeitsmarktentwicklung und Arbeitsrecht, Treuhand und Abwicklung, Qualifizierungsmaßnahmen und Rentenpolitik ersetzten in weiten Teilen die sonst üblichen »Welche Perspektiven hat der Sozialismus?«-Debatten. Sollte die »Volksuni« im Beriff sein, ihrem Namen gerecht zu werden und auch verstärkt nicht-akademische Bürger in die Diskussion über oppositionelle Bewegungen miteinzubeziehen?

Deutlich wurden wieder einmal die unterschiedlichen Befindlichkeiten in Ost und West. So wurde die Kölnerin Machthild Jansen heftig kritisiert für ihren Versuch, als »Wessifrau« für die Ostfrauen sprechen zu wollen, und auch bei Publikumsdiskussionen tuschelte es mit schöner Regelmäßigkeit, man wolle »doch nicht schon wieder missioniert werden«. HUB-Direktor Heinrich Fink begrüßte diese Entwicklung als konstruktiven Ansatz: »Diese Volksuni ist ein Ort geistiger Auseinandersetzung, und ich freue mich, daß hier nun endlich einmal positiv Aggressionen ausgetragen werden. Nur so kommen wir uns näher.«

Unproblematischer, aber auch zahmer, verliefen die Veranstaltungen der nicht deutsch-deutschen Themenbereiche. Die Perestroika wurde noch einmal thematisiert, die US-Weltmarktposition und natürlich der Golfkrieg als Teil der neuen »Welt-Unordnung«. Michael Müller (MdB) machte auf die ökologischen Folgen des Golfkriegs aufmerksam und erinnerte noch einmal daran, daß auch heute noch 650 kuwaitische Ölfelder in Flammen stehen. Ansonsten war das Golfthema von Absagen bekennzeichnet: Eine Veranstaltung über die politische Ökonomie des Golfkriegs konnte nicht stattfinden, und auch der angekündigte Theologe Helmut Gollwitzer, der seine Beteiligung an einer Diskussion über die Friedensbewegung und den Golfkrieg zugesagt hatte, mußte aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig absagen.

Großen Zulauf hatten in der Humboldt-Universität wieder einmal die »Klassiker der Linken«. Elmar Altvater überfüllte einen Hörsaal mit der Frage: »Ist Marktwirtschaft sozialisierbar?«, und auch der Berliner Politologe Johannes Agnoli begeisterte sein Stammpublikum wieder einmal in einer Diskussion mit Hausbesetzern über den politischen Gehalt ihrer Aktionen. Der Westberliner Kabarettist Martin Buchholz (»Wir sind, was volkt«) genoß sichtlich seinen Auftritt im ausverkauften Marx-Engels-Auditorium. Die Veranstalter waren am Sonntag abend bereits mehr als zufrieden: »Wir hatten eigentlich nicht erwartet, mehr als 2.000 Leute hierherbewegen zu können. Aber der Erfolg zeigt uns jetzt deutlich die Notwendigkeit eines solchen Forums«, zog Jan Rehmann, einer der Organisatoren, Zwischenbilanz.

Und auch Heinrich Fink war sichtlich zufrieden: Er hofft, mit dem Erfolg dieser Veranstaltung auch auf die weitere Entwicklung der von Autonomieverlust und Abwicklung bedrohten Humboldt-Universität positiv einwirken zu können. Jeanette Goddar

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