Es gibt kein Kino

Ein Gespräch mit dem polnischen Filmemacher Krzysztof Kieslowski  ■ Von Thierry Chervel und Marcia Pally

Daß Kieslowski vor drei Jahren der internationalen Presse und dem großen Publikum bekannt wurde, hat er unter anderem dem Festival von Cannes zu verdanken. Sein Kurzer Film über das Töten wurde in den Wettbewerb genommen, obwohl Kieslowski damals noch ein Nobody war. Der Zufall war im Jahr zuvor noch in einer Nebenreihe untergegangen. Auf den diesjährigen Filmfestspielen, die gestern abend zu Ende gingen, lief, ebenfalls im Wettbewerb, sein erster in Frankreich produzierter Film: La double vie de Véronique, die Geschichte zweier Frauen, Weronika in Polen und Véronique in Frankreich (siehe taz vom 16.5.) Auf den Berliner Filmfestspielen, wo einige seiner Filme im 'Internationalen Forum des Jungen Films‘ liefen, war ihm die Ehre des Wettbewerbs nie zuteil geworden. Seit dem Kurzen Film... hat sich die politische Situation in Polen von Grund auf geändert. Wir fragten Kieslowski in Cannes, ob dieser Wandel einen Einfluß auf seine Arbeit hat.

taz: Werden Sie weiterhin Filme machen?

Krzysztof Kieslowski: Hoffentlich nicht mehr lange.

Und wo?

In Frankreich und in Polen.

Wie sind die Arbeitsbedingungen in Polen nach dem Zerfall des Sozialismus?

Es gibt nur sehr wenig Möglichkeiten. Es gibt keine Arbeit und kein Geld. Arbeiten kann man nur, wenn ausländisches Geld da ist. Zur Zeit gibt es, wenn ich mich nicht irre, Geld für fünf oder sechs Filme im Jahr. Früher gab es Geld für 40. Aber ich betrachte das nicht als ein wichtiges Problem im heutigen Polen.

Welches sind die wichtigen Probleme?

Es ist schwer, ans Monatsende zu kommen. Und die Leute haben keine Geduld.

Ist dieser Mangel an Geduld Voraussetzung für neuere politische Entwicklungen in Polen, die nationalistischen, die antisemitischen und frauenfeindlichen Bewegungen?

Ich messe diesen Bewegungen keine sehr große Bedeutung bei. Aber wie auch immer: Die Ungeduld ist eine ihrer Ursachen.

Wie denken Sie denn über das neue Abtreibungsgesetz oder die Gesetze, die den Kauf von Verhütungsmitteln für strafbar erklären sollen?

Ich finde, jeder ist für sein eigenes Schicksal verantwortlich. Niemand sollte da seine Nase hineinstecken.

Aber das sind doch Gesetze. Denen kann man sich nicht entziehen.

Nein. Sie sind noch nicht erlassen.

Es steht bevor.

Vielleicht auch nicht. Jedenfalls bin auch ich nicht glücklich über diese Gesetze.

Wie würden Sie die Funktion des Kinos in Polen unter diesen neuen Bedingungen beschreiben?

Es gibt kein Kino.

Warum haben Sie „La double vie de Véronique“ gemacht?

Weil sich die Möglichkeit ergab, den Film zu machen.

Und welche Wirkung erhoffen Sie sich beim polnischen Publikum von dem Film?

Es werden ihn nur wenige Leute sehen. In Polen kann man es sich nicht leisten, ins Kino zu gehen. Außerdem zeigen die Kinos gar keine polnischen Filme. La double vie... wird aber wahrscheinlich in Polen verliehen.

Was haben die relativ großen Mittel, die Sie für den Film zur Verfügung hatten, und die neuen Bedingungen im allgemeinen für Sie geändert?

Ich bin nicht glücklich über das viele Geld. Ich würde es vorziehen, wenn dieser Film und spätere weniger Geld kosten würden. Aber hier im Westen ist unglücklicherweise alles sehr teuer. Aber das Wesentliche wird davon nicht beeinflußt. So oder so muß ich morgens aufstehen und die Kameras aufstellen, den Schauspielern erzählen, was sie tun sollen. Egal, ob sie es für Zloty oder für Dollar tun. So oder so arbeiten sie gut oder schlecht. Das Problem ist, die besten zu finden.

Ihre früheren Filme befaßten sich sehr intensiv mit moralischen Themen. Wie betrachten Sie Ihre eigene Tradition eines moralischen Kinos angesichts der Hoffnungslosigkeit, von der Sie gerade gesprochen haben?

Ich würde das Wort Moral nicht einmal in den Mund nehmen. Denn das würde bedeuten, daß ich Ratschläge geben wollte oder daß ich sagen wollte, wie dies oder das sein soll. Aber ich weiß nicht, wie es sein soll. Darum ist es schwierig, mein Kino als moralisches Kino zu beschreiben.

Wir meinen nicht, daß der „Dekalog“ moralische Urteile abgibt, aber doch, daß er moralische Fragen stellt.

Ja, er stellt Fragen. Und ich weiß keine Antwort auf diese Fragen.

Und welche wären Ihre Fragen im heutigen Polen?

Ich stelle die Fragen nicht in bezug auf Polen. Ich stelle Ihnen Fragen.

Welche?

(schweigt)

Welche Fragen stellen Sie in „La double vie...“?

Dieselben wie immer. Wie soll man leben? Wofür? Für wen? Wie soll man sich für was entscheiden? Vielleicht gibt es gar keine richtige Entscheidung. Ich glaube, diese Fragen gehen uns alle an.

Aber vielleicht gibt es in unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Bedingungen, diese Fragen zu stellen.

Natürlich. Im Fernsehen sehen wir, wie die Leute in fremden Ländern zu Tausenden sterben. Oder die Georgier, die sich gegenseitig umbringen. In diesem Fall hätten sie recht zu sagen, daß sie andere Probleme haben. Aber an solchen Dingen bin ich weniger interessiert. Mir geht es mehr um das, was in uns ist. Und hängt das vom Land ab? Nein. Glauben Sie, daß ein reicher Mann mit Karies weniger Schmerzen hat?

Es ist leichter für ihn, sie behandeln zu lassen.

Der Schmerz ist derselbe.

Wenn man kein Geld hat, wird man in manchen Ländern nicht behandelt. Das verschlimmert den Schmerz.

Vielleicht war das ein dummes Beispiel. Vielleicht läßt sich Zahnschmerz mit Geld tatsächlich besser verkraften. Aber es gibt wichtigeres als Zahnschmerzen. Selbst wenn Sie nicht meiner Meinung sind, gibt es doch eine Gemeinsamkeit zwischen uns. Davon möchte ich in meinen Filmen erzählen.

Im „Dekalog“ haben Sie diese allgemeinen Fragen an sehr konkrete Bedingungen geknüpft. Würde der „Dekalog“ heute anders aussehen als vor drei Jahren?

Es wären dieselben Filme. Was soll groß passiert sein seitdem? Doch, eines hat sich geändert: in Polen wurde die Todesstrafe abgeschafft. Der Kurze Film über das Töten könnte also in dieser Form nicht mehr gedreht werden. Ich leugne nicht, daß sich in Polen seit dem Dekalog viel geändert hat. Nur die Dinge, von denen sie handeln, haben sich nicht geändert. Es sterben immer noch Kinder. Das hängt nicht vom politischen System ab.

Trotzdem würden die Veränderungen Einfluß nehmen auf die Geschichten in den Filmen. Es ist vielleicht nicht mehr so schwer, ein Taxi zu bekommen, wie in der Zeit des „Kurzen Films über das Töten“. Das würde den ganzen Film ändern.

Es hängt von der Tageszeit ab. Zu manchen Zeiten ist es ganz leicht, ein Taxi zu bekommen, dann wieder nicht. Aber es war kein Film über Taxis, sondern über das Töten. Die Leute morden heute genauso wie vor fünf Jahren, und in fünf Jahren wird es dasselbe sein, egal in welchem Land.

Welche „Leute“?

Alle. Dieselben Leute. Du und ich. Wahrscheinlich ermorden wir jemand und werden ermordet.

Glauben Sie — natürlich nicht im biblischen oder kirchlichen Sinne — an christliche Werte?

Ja, wenn man es wörtlich nimmt. Für mich heißt das: die anderen respektieren.

Zurück zu „La double vie...“: Handelt der Film von jemandem, der die Phantasie hat, woanders zu leben, als er lebt?

Nein. Allgemein gesprochen hängen beide Frauen an dem Ort, an dem sie leben. Natürlich haben beide Sehnsucht nach etwas, das sie nicht haben. Aber das ist nicht eine Frage des Ortes.

Hier sprechen Sie vom Standpunkt der Figuren aus. Die Frage könnte man auch auf den Regisseur beziehen. Manchmal hat man ja das

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Gefühl, nicht dort zu sein, wo man hingehört.

Sicher. Aber ich sehne mich nicht nach einem anderen Ort.

Sondern?

Wahrscheinlich sehne ich mich nach einer Welt, die nicht mehr existiert.

Nach einer Vergangenheit?

Ja, nach einer Welt, die vergangen ist.

Nach welcher? Manche sind seit kurzem vergangen, andere vor hundert Jahren.

Vielleicht habe ich Sehnsucht nach einer Welt, die es nie gab, nach einer Welt, in der die Leute mehr Zeit hatten, in der sie noch Beziehungen hatten, wo sie noch miteinander sprachen, wo sie noch Zeit hatten nachzudenken. Aber ich weiß nicht, wo sie ist. Und ich weiß nicht, ob es sie je gab.

Haben Sie Sehnsucht nach Harmonie?

Sehr. Natürlich weiß ich, daß sie nicht existiert.

Die Musik in Ihrem neuen Film war sehr harmonisch und sehr groß. Vielleicht zu harmonisch und zu groß für diesen intimen Film.

Sie wird zuviel eingesetzt, das stimmt.

Sie haben gesagt, daß Sie nicht aufwendig arbeiten wollen. War diese Musik mit Komponist, Sängern, Chor, Orchester und Zuschauern nicht sehr teuer?

Nein, sehr billig. Wir haben sie in Polen gemacht, da kostet sie vielleicht ein Zehntel des westlichen Preises. Sie hat wirklich nur einen kleinen Teil des Budgets beansprucht.

Wie hoch war das Budget?

30 Millionen Francs. Viel zuviel.

Hängt das nicht davon ab, was man damit macht?

Ich habe keinen Einfluß darauf. Ich gebe nicht gern so viel Geld aus. In diesem Fall habe ich allerdings kein so schlechtes Gewissen, weil das ganze Geld aus Presales stammt. Es kommt kein Geld aus staatlichen oder privaten Institutionen.

Wie sind Sie auf die Idee zu „La double vie...“ gekommen?

Wir hatten zuerst eine ganz andere Idee. Ein Mann sollte aus der „anderen Welt“ zurückkommen. Aber wir haben nicht herausgefunden, warum er überhaupt wiederkommen sollte. Die Idee der Doppelung gab es also schon. Daraus hat sich die etwas realistischere Idee zu dem jetzigen Film entwickelt.

Was haben die Zuschauer von Ihren Filmen?

Vor allem Fragen. Vielleicht nicht nur Fragen. Ich kann Ihnen ein Beispiel geben. In Berlin — das damals noch geteilt war — habe ich eine Frau getroffen. Es war in der U-Bahn. Die Frau erkannte mich wieder, sie hatte am Tag zuvor eine Sendung mit mir im Fernsehen gesehen. Sie war ungefähr 55. Sie kam zu mir und sagte „vielen, vielen Dank“ und begann zu weinen. Ich war furchtbar erschreckt, und ich fragte sie, warum sie weint. Und sie erklärte mir gleich, daß sie eine Tochter hat, vielleicht 20 Jahre alt. Sie hatten seit fünf Jahren kaum noch Kontakt. Aber sie waren zusammen im Kurzen Film über die Liebe gewesen. Nach dem Film gab ihr die Tochter zum ersten Mal seit fünf Jahren einen Kuß. Natürlich ist das ein dummes Beispiel. Wenn so etwas passiert, denke ich, daß es sich gelohnt hat, einen Film zu machen und ein Jahr lang sehr hart daran zu arbeiten. Vielleicht streiten sie sich einen Tag danach wieder. Aber sie hatten etwas von dem Film. Vielleicht hätte sie den Kuß auch bei einem anderen Film bekommen — das kann ich nicht wissen. Aber es war mein Film.