piwik no script img

Die Reise ins Ich

■ Das Hörspiel „Zuckermann und Lehmann“ wird um 20 Uhr auf Rias 1 gesendet

Es kursiert ein umstrittenes Gerücht, demzufolge Vögel erst im Käfig so recht beginnen, aus voller Kehle zu singen. Böse Zungen behaupten gar, beim Menschen verhalte es sich ähnlich. Säße der erst mal so tief hinter Schloß und Riegel, ließe auch das „Auspacken“ nicht mehr lange auf sich warten.

Wie dem auch sei! Herr Lehmann jedenfalls fängt tatsächlich in der Haft zu „singen“ an. Nach jahrzehntelanger wirtschaftlicher Emsigkeit hat es den Praktiker nun erwischt. Eine Steuerhinterziehung hat ihn festgesetzt. Doch ist dies nicht das eigentliche Vergehen des alten Herrn. Was da auf Antrieb des geheimnisvollen Zuhörers so peu à peu ans Licht gerät, ist eine schwere Schuld. Zunächst lieht sie noch tief vergraben im Bewußtsein des Herrn Lehmann und erst ein „Sprach-Spiel“ räumt den Zugang wieder frei.

Herr Zuckermann, alias Moritz, der Besucher, gibt unbemerkt die Regeln vor. Sein Gegenüber ist — wie wohl schon immer — ein naiv folgsamer Schüler. Ganz sachte, zögernd, schnaufend weist der Frager in die Richtung: Was tat Herr Lehmann damals, im Arbeitslager Lemberg-Janov, „zu diesen Zeiten, na Sie wissen ja...“

Mit großer Spannung wartet man in die Stille — wir haben ja „nur“ unser Ohr in diesem Fall und keine sichtbaren „Ablenker“. Stockend und ruckend kommt das Gedächtnis in Gang, und mit knarrender Stimme gibt das Bewußtsein widerstrebend nach. Vor unser aller Ohren vollzieht sich diese Spach-Geburt. Daß ist schon ein Erlebnis. Denn während die beiden alten Herren ganz menschlich beim Backgammon sitzen, spielen sie wirklich Räuber und Gendarm: Mal laut gesprochen und mal nur gedacht jagen sie alleine oder zu zweit in ferne Winkel der Erinnerung.

So geraten sie bei dem „schrägen Vogel“ Lehmann an die Domäne der verdrängten Worte, dorthin, wo Begriffe mit ihren Inhalten noch identisch sind... Ganz behutsam, menschlich fast, rückt Zuckermann nach. Zug um Zug, bis dann im Kopf und in der Zelle die belasteten Wörter monströs gegen ihn anrücken. Und nun ist Flucht unmöglich, denn er sitzt ja im Käfig... Gaby Hartel

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen