Außer sich und bei sich selber

■ Claus Peymann inszeniert Goethes „Clavigo“ in Wien

Clavigos Wohnung: ein hoher, mit violetten Tapeten ausgekleideter Raum; an der Hinterwand eine Flügeltür mit Glasscheiben, die bei hochgezogenen Rouleaus den Ausblick eröffnen in die Eingangshalle mit einer Tür, die ins Freie, in ein blendend helles Nichts führt; im Vordergrund ein Billardtisch, rechts am Fenster ein Schreibtisch; das Rouleau ist tief heruntergezogen, nur durch eine schmale Öffnung fällt grelles Licht.

Clavigo, kürzlich zum Archivarius des spanischen Königs avanciert, beendet gerade einen Text. Mit theatralischer Geste beugt sich Ulrich Mühe, das Blatt hochhaltend, zurück zu seinem gegenüber sitzenden Freund Carlos. Für den fünf Akte dauernden Rest von Goethes Trauerspiel wird das Geschehen aber nicht vom Schriftsteller Clavigo formuliert. Dieser gerät nämlich förmlich in eine Erzählung seiner eigenen jüngsten Vergangenheit, mit der ihn der aus Frankreich angereiste Beaumarchais konfrontiert. Anlaß dieser Erzählung ist Clavigos aus Karrieregründen nicht eingehaltenes Eheversprechen gegenüber dem einfachen Bürgermädchen Marie, Beaumarchais' Schwester.

Doch Clavigo muß sich nicht bloß seine eigene Geschichte anhören, die Ulrich Mühe sich am Sessel winden und seine Beine um die Stuhlbeine wickeln läßt. Darüber hinaus wird ihm vor versammelter Dienerschaft eine Erklärung, in der er sein niederträchtiges Verhalten einbekennt, diktiert und deren Veröffentlichung angedroht. Eine öffentliche Demütigung des Menschen Clavigo und eine böse Erniedrigung des Schriftstellers, der nur noch nach dem Diktat anderer zu schreiben hat — eine böse Pointe Goethes.

Vor der Veröffentlichung des Schriftstücks findet der zwischen Selbstmord und Mord Schwankende nur einen Ausweg: Beaumarchais selbst zum Mittler seiner allzu plötzlich wieder entflammten Gefühle für Marie zu machen.

Martin Schwab als Maries Bruder agiert in der Haltung eines Mannes, der sich vorgenommen hat, „zu sich selbst zu kommen“ und nicht „den Komödienbruder zu machen“, der aber von den Umständen immer wieder aus der Rolle der Gelassenheit geworfen wird. Vor seinem Besuch bei Clavigo versichert er noch, „guten Humors genug (zu sein), um den Kerl an einem langsamen Feuer zu braten“. Für das Ende, als der neuerliche Verrat an Marie bekannt wird, haben Claus Peymann und sein Dramaturg Hermann Beil — die den Text Goethes ohne nennenswerte Kürzungen spielen lassen — für Schwabs Beaumarchais eine Passage aus dem Paralipomenon des Erstdrucks von 1774 gefunden: „O hätt ich ihn drüben über dem Meere! Fangen wollt ich ihn lebendig und an einen Pfahl gebunden stückweise seine Glieder ablösen, vor seinem Angesichte braten und mir's schmecken lassen.“ So kann ein Mensch des Sturm und Drang außer sich geraten.

Hat Karl-Ernst Herrmann für Clavigos Wohnung einen dunklen, schweren Raum entworfen, läßt er für die drei Szenen in der Wohnung von Maries Schwager von unten, von links und schließlich von rechts kommend eine weiße, helle Kammer in Clavigos Raum schieben. Eine Puppenstube mit wenigen Biedermeier- Möbelstücken, ein kleinbürgerliches Hinterzimmer, das in Kopfhöhe der beiden im Vordergrund (im übrigen miserabel) Billard spielenden Aufsteiger schwebt — wie ein Bild aus anderen Tagen. Für Paulus Mankers Carlos — der keinen intriganten, mephistophelischen Charakter darstellt, sondern einen rücksichtslosen Freund, der weiß, daß man das Recht diktieren muß, damit es auf seiner Seite steht — ist es nicht einen Blick wert. Und Ulrich Mühe betritt diese Welt nur einmal, rückfällig werdend; in seinem hellen Anzug verliert er hier jeden Kontrast, nicht aber den Weg aus den Augen zurück zu seinem Freund, den er dann auffordern wird: „Ich habe kein Nachdenken; hab's für mich.“

Eine enge Welt, aus der es für Marie keinen Ausweg gibt, so sehr sie auch „ganz außer sich“ geraten möge. Andrea Clausen zeigt eine schwärmerische Verzweiflung und bereits hoffnungslose Liebessehnsucht, mit der sie uns nicht vormachen will, daß sie ein moderner Mensch mit zeitgemäßen Problemen ist. Einmal fällt ihr ein Tuch aus der Hand, aber nicht auf den Boden der guten Stube, sondern förmlich aus dem Rahmen hinunter in Clavigos Reich. Von Manker wegen seines neuerlichen Liebesversprechens mit allen Mitteln zerschlagenen Porzellans und körperlicher Umarmungen zur Räson gebracht und zur Flucht ermuntert, hebt Ulrich Mühe beim Weggehen das Fetzchen Vergangenheit unachtsam und zugleich behutsam auf.

Claus Peymann gelingt es, Goethes pathetisches Trauerspiel trotz des Verzichts auf Ironie so zu inszenieren, daß es nicht der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Er bemüht sich nicht, das gesamte Stück als brennend aktuell zu verkaufen, und findet doch an diesen Menschen Interesse. Selbst das opernhafte Finale bleibt als „Zauberspiel, das (Clavigo) einen Spiegel vorhält“, erklärlich, ohne jedoch Irritationen restlos auszuräumen. Dieter Bandhauer

Johann Wolfgang von Goethe: Clavigo. Regie: Claus Peymann. Bühne: Karl-Ernst Herrmann. Mit Paulus Manker, Ulrich Mühe, Martin Schwab, Andrea Clausen. Burgtheater Wien. Nächste Aufführungen: 22., 26., 27., 28. und 31. Mai.