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KOMMENTAREAttentat auf einen kollektiven Traum

■ Es hat den falschen erwischt! Zum Attentat auf Rajiv Gandhi

Als Rajiv Gandhi nur wenige Stunden nach dem tödlichen Attentat auf seine Mutter das Amt des Premierministers antrat, da hatte sich einmal mehr der dynastische Charakter der größten Demokratie der Welt offenbart. Der weltmännische Flugzeugpilot Rajiv Gandhi sollte nun das bis dahin eher sozialistisch orientierte Indien auf den zeitgemäßen Kurs einer liberalen Wirtschaftspolitik, mithin Kreditwürdigkeit und Investitionslust, bringen. An den politischen und sozialen Konsequenzen, an Korruptionsvorwürfen und der sich verschärfenden Kluft zwischen den Computerkids des aufsteigenden urbanen Mittelstands und denen, die an der angestrebten High-Tech-Revolution keinen Anteil haben, scheiterte Gandhis Kongreßpartei bei den Wahlen von 1989.

Nicht minder umstritten waren Gandhis Bestrebungen, das hochverschuldete Entwicklungsland zu einem südasiatischen Weltpolizisten aufzurüsten sowie die Entsendung indischer Truppen zur Aufstandsbekämpfung der auf regionale Autonomie dringenden Tamil Tigers in Sri Lanka.

Daß die Verhängung der Ausnahmezustände im Punjab, in Kaschmir und Assam und anderen von Sezessionsbewegungen erfaßten Bundesstaaten nicht allein der rigoros-zentralistischen Politik der Gandhis geschuldet war, ist eine Erfahrung erst der jüngsten Zeit. Das erneute Aufbrechen kommunalistischer Konflikte zwischen den Fundamentalisten, der drohende Verlust des nördlichen Herzlandes Kaschmir wie anderer Bundesstaaten, der schwelende Konflikt an der pakistanischen Grenze und nicht zuletzt die wachsende Verschuldung bei der Weltbank, haben die Rückbesinnung auf die Tradition der Gandhis für den Wähler in den letzten Monaten wieder attraktiv gemacht.

Die seit der Unabhängigkeit und Teilung des Subkontinents fast ununterbrochen herrschende Dynastie der Gandhis und der Nehrus funktioniert als kollektiver Traum von der fruchtbaren Vater- Tochter- und der machtverheißenden Mutter- Sohn-Beziehung. Das blutige Attentat ist auch eines auf die staatstragenden Ideen von der „Einheit in der Vielfalt“, schlimmer noch, der Trennung von Religion und Politik. Für die Zukunft des indischen Staatssystems wird viel davon abhängen, ob es der gespaltenen Kongreßpartei gelingt, sich in den nächsten Tagen hinter einem profilierten Nachfolger zusammenzufinden, um einen jetzt möglichen Wahlerfolg der rechts-integralistischen Hindu-Partei BJP zu unterbinden.

Viel wird aber auch von der Herkunft und dem Zeitpunkt der Ermittlung der Attentäter abhängen. Es wäre der indischen Demokratie zu wünschen, daß die zu befürchtenden Vergeltungsanschläge und Ausschreitungen erst unter einer neu gewählten Regierung anheben. Andernfalls steht zu befürchten, daß die indische Nation unter den ethnisch-religiösen Konflikten zerbricht. Simone Lenz

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