Von der Romantik industriegroßens Blechspielzeuges

■ Die Rüdersdorfer Kalkwerke als Ziel für trittfeste EntdeckerInnen

Etwelche Heimatführer kennzeichnen die Rüdersdorfer Kalkwerke als guterhaltenes technisches Denkmal. Sie haben Unrecht. Gottseidank.

Zuerst einmal müßte der Besucher sich trittfestes Schuhwerk und ein derbes Wandergemüt zurechtlegen. Außerdem sollte jener Besucher dieses wahrhaft wegesrandigen Museums preußischer Ingenieurskunst möglichst vor seiner Reise nach Rüdersdorf wissen, was er an Ruinösem zu visitieren gedenkt. Daß er weder Z1, Z2 noch Z4 sehen wolle, oder gar das graupatinierte monströs-erhabene Z3, das unter August Thyssen 1911 als Firma Rittergut GmbH den Ruhm deutschen Portlandzements mitbegründete und nun durch eine holländische Firma abgerissen werden soll. Denn im Gegensatz zu den Heimatführern sind die Einheimischen eher spärlich über die alten Kalksteinbrüche, die Rumfordöfen und Schachtofenbatterien informiert. Aber zugegeben: an den vollkommen verlassenen und in ihrer Häßlichkeit lyrischen Zementwerken vorbeizuirren, hat auch seinen Reiz. Besonders, wenn dazu die Blechhauben alter Bogenlampen im Winde schlagen.

Kalk wird in Rüdersdorf seit mehr als 660 Jahren gebrochen. Als Nebenlage des südlich von Berlin gelegenen Zisterzienserklosters Zinna erstmals 1308 erwähnt, weckte es von Beginn an durch die reichen Kalkberge das Interesse seiner wechselnden Herren. Im nahegelegenem Heinitzsee (so benannt nach dem kursächsischen Generalbergkommissar Friedrich Anton v. Heinitz) fand man beim Abpumpen des Wassers eine Kirche, die wahrscheinlich im Mittelalter von Bergleuten in der Talsohle errichtet wurde. Später durch Sickerwasser überschwemmt; heute längst abgerissen. Überall, wo man in Rüdersdorf hinblickt, Lapidarien. Die nun musealen Kalksteinbrüche erhielten ihre heutige Gestalt ab 1769 unter Friedrich II. und durch von Heinitz. Das erhöhte Bauaufkommen Berlins forderte den verstärkten Abbau dieses Bindemittels. Kanäle, die Verbindung mit den Gewässern Berlins herstellten, wurden errichtet, die Verarbeitung des Kalks erfolgte gleich vor Ort, und Sprengpulver wurde eingesetzt.

Rüdersdorf wurde umbaut. Die Kolonien Hortwinkel und Landhof entstanden zwischen 1790 und 1850, und in Rüdersdorf- Kalkberge nahm das Gestalt an, was noch in seinen Resten eine Reise wert sein könnte.

Brücke und Weg sind schmal. Rechts liegt eine Kleingartensiedlung. Der Kanal ist durch Wassergrundstücke parzelliert. Plasteboote dümpeln hier und da, und jemand spielt nicht ungeschickt Akkordeon. Staub ist allerorten. Ob Kalk oder Zement. Eine lieblose Ruhe liegt über dem Dorf. Achtung Lebensgefahr! Zuwiderhandlungen werden bestraft! Stacheldraht, aber kein Problem. Neugierige haben ihn längst aufgekrempelt. Noch ein paar Schritte den Weg empor, und man steht in Geröllhalden mit Blick auf die Kirche. Auch in der mittelalterlichen Dorfkirche von Rüdersdorf — gleich gegenüber dem Kalkbruch gelegen — spricht die Vergangenheit vom Kalk. Hier befindet sich eine Kalksteintraufe aus dem Ende des 16. Jahrhunderts. Der Bülowkanal, auf dem einst der Mörtelkalk verschifft wurde, ist zugeschüttet. Nur das von Christian D. Rauch geschaffene Brückenportal ist erhalten. In seiner archaischen Sinnentleertheit wirkt es großartiger denn je inmitten des Wildwuchers. Die Wege und Verbotstafeln (Achtung Sprengbereich) sind trefflich erhalten. Am Haus des Hüttendepartements hat die Sonnenuhr samt Stab, dem Gnomon, den moderneren Zeitmessern trotzen können.

Mitten durch den Kalkberg führt ein Tunnel, der durch jene Gletscherschrammen hindurch gemeißelt wurde, an denen 1875 der schwedische Geologe Otto Torell die eiszeitliche Entstehung der norddeutschen Oberflächenformen nachwies. Am Heinitzsee kündet davon ein Gedenkstein. Der Tunnel ist kurz und gut begehbar — und dennoch — an seinem Ende steht man in einer anderen Welt: Heraus aus der wehmütigen Verfallenheit technischen Geländes, dem man seine ursprüngliche Bestimmung längst nicht mehr ansieht, in den Schlund eines wüsten Mondkraters. Das Abbaugebiet. Kilometerweit. Heller Kalkstein in Schichten; rissig und gefaltet, Abraum zerklüftet und der Boden des Kalkbruchs sauber und gefegt wie der Teller eines Riesen. Dazu vereinzelt ein paar Maschinen, die sich aus der Höhe des steilen Karstes ausnehmen wie Nürnberger Blechspielzeug. In der Ferne die schmalen Schlote zweier Rüdersdorfer Öfen, dem technikgeschichtlich jüngstem Kalkofentyp. Sie sind die Weiterentwicklung des klassischen Rumfordofens, die mit dem wesentlich längerem Brennkanal (der 20m langen Esse) eine höhere Ausbeute bot. 1877 wurden zwei Dutzend von ihnen zur sogenannten Schachtofenbatterie zusammengefaßt, und 1880 boten sie knapp zweitausend Beschäftigten ständigen Lohn. Bald darauf schrieb ein schlesischer Wanderarbeiter an seine Eltern:

»Nun, ich kann nicht ungenannt lassen, daß die alten englischen Dinger [Rumfordöfen, d.A.] sich nur knapp rentiren täten. Allerdings haben wir seit Geraumen diese neuen langen Öfen; ich will Euch nur sagen, das sie besser brennen, was wegen der Luft ist, die wohl ein wenig mehr zirkulirt. Mehr des Weges muß man von den Heimen zu diesen Öfen zum Tagesbeginn gehen, dafür ist die Arbeit leichter, wenn auch länger. Berlin brauche Kalk, sagt der Meister. Ich will's wohl glauben.«

Doch Schachtöfen waren wohl besser als die »alten englischen Dinger«. Als Ruinen taugen sie allerdings nicht viel. Wie anders dagegen die Rumfordöfen, die geduckt und konisch sich eher wie ein Köhlermeier ausnehmen. Nicht sonderlich hoch, vieleckig, obenauf die Esse. Im Ganzen kompakt und massiv wirken sie durchaus wehrhaft. Ringförmig wurde im Inneren der Kalk angelagert, der dann gebrannt ward, wobei unter Verlust der Kohlensäure das Kalziumoxyd entsteht, das mit Wasser gelöscht Ätzkalk ergibt, welcher wiederum mit Sand als Mörtel vermischt an der Luft zu kohlensaurem Kalk erhärtet (so viel für die Heimwerker).

Die noch erhalten gebliebenen Rumfordöfen bröseln unter dem Ansturm der Vegetation, sind dementsprechend von Schlinggewächsen und Buschwerk eingewuchert (haaach!), vermoost geradezu, verschwimmen in ihren Umrissen unter all dem Grün höchst malerisch gleich versunkenen Maya- Tempeln. Gut passend dazu wechselt gerade eine Schule äsender Rehtiere löffelnd die Raufe, und ein Jungfalke kröpft im Gemäuer sein armes Opfer. Alles ist genauso, wie ein Ruine sein sollte: romantisch.

Daß man sie noch nicht gänzlich dem Zahn der Zeit anheimgegeben hat, zeigt die notdürftige Abdeckung eines Wirtschaftshauses und der intakte Zustand des Uhrturms, der 1884 von K.F. Schinkel entworfen wurde; ebenso übrigens wie das Bergamtsgebäude in der Heinitzstraße 10.

Zum Schluß nun noch ein zünftiger Anfahrtsweg: möglichst bitte Köpenick (S-Bahn), dann die Straßenbahn benutzen, die über Schöneiche und Woltersdorf bis hin nach Rüdersdorf weit aus dem Berliner Stadtgebiet herausführt; quer durch Felder und Vorortsiedlungen, Dörfer und Wädchen fährt das rostig-rote Wägelchen. Volker Handloik