: Ohnmacht des Begriffs
Elisabeth Webers Studie zu Emmanuel Lévinas ■ Von Joseph Vogl
Unausweichlich ist die Philosophie Emmanuel Lévinas' vielleicht darin, daß sie die Schleudertraumen modernen Denkens mit Überwachheit festgehalten hat und noch in ihrem Gestus den Reizschutz des akademischen Denkens angreift: mit dem Anspruch eines anderen, nicht subjektorientierten Humanismus; mit der Idee einer Verantwortung, die das Maß ethischer Normen durchschlägt; mit der Figur eines schlechthin Fremden, das die Instanz des Bewußtseins aus seiner Selbstgewißheit vertreibt.
Keine Frage also nach dem Überleben der Philosophie, vielmehr danach, wie die Philosophie ihrem Überleben entkommt. Dies jedenfalls ist das problematische Feld, in dem die Studie Elisabeth Webers Grundpositionen der Lévinasschen Metaphysik aufgreift, umwendet und schärft. Denn in ihrem Kommentar zu einem der am wenigsten zugänglichen Bücher des französischen Philosophen— dem noch unübersetzten Autrement qu'être ou au- delà de l'essence— verfolgt sie die Bewegung eines Denkens, das seinen Widerstand und sein Motiv aus den Ausscheidungsresten der abendländischen Philosophie bezieht und sich in der Frage nach der vorgängigen Leiblichkeit des Subjekts einer Erfahrung unauslöschbarer Differenz annähert.
Dabei geht es nicht allein darum, wie das Denken im Vorrang des Sinnlichen eine exzentrische Bahn einschlägt und sich der Erschütterung „an den äußersten Grenzen der Vernunft“ (Lévinas) aussetzt. Elisabeth Weber zeigt vielmehr, wie die Einbrüche von Tod, Eros, Schmerz, Verwundung das Massiv der begrifflichen Ordnung selbst aus dem Gleichgewicht werfen und die philosophische Aussageform gefährden, notwendig gefährden müssen.
Daher können Leitbegriffe Lévinas‘ wie „Spaltung“, „Trauma“, „Obsession“, „Psychose“, die das Andere der Vernunft an eine Pathologie des Bewußtseins heften, einer Konfrontation mit dem Schlaglicht der Psychoanalyse kaum ausweichen, einer Konfrontation, die Webers Arbeit mit einer an Lacan geschulten Terminologie nachholt und rekonstruiert. Zugleich aber wird gerade das Nichtbegriffliche, die Maßlosigkeit der somatischen Erregung zum Faktum und Ereignis des Lévinasschen Textes selbst, der sich, wie die Autorin nachweist, in repetitiven und hyperbolischen Figuren an seinen eigenen Abbruchrändern entlangbewegt — eine konsequente Aufwertung der philosophischenSchreibweise.
Nicht zuletzt jedoch registrieren die Motive der Verwunderung und Verwundbarkeit das Eindringen historischer Erfahrung diesseits der Geschichtsphilosophie. Ausgehend von der Widmung an die Opfer des nationalsozialistischen Massenmords, die dem Buch des jüdischen Denkers vorangestellt ist und Lévinas' engste Angehörige einschließt, begreift Weber die konstitutive Schwäche des Subjekts und die programmatische Schwächung der philosophischen Rede als Bedingungen einer Philosophie „nach Auschwitz“, wie sie schon von Adorno und Lyotard in Aussicht gestellt wurde: die die Erfahrung, die „Unerfahrung“ von Verfolgung und Deportation in der Ohnmacht des Begriffs, im Andenken an ein Unerinnerbares wachhält und sich jede rettende, jede versöhnende und aufhebende Attitüde versagt.
Wenn die Analyse Elisabeth Webers dabei das Schwindelerregende, das Schwanken und die Ambivalenz dieses Denkens bis ins Innerste des Lévinasschen Arguments nachzeichnet und aus der Reichweite des theologischen Zugriffs entfernt; wenn sie in „Trauma“ und „Verfolgung“ nicht nur äußerste Passivität und Hingabe des Ichs, sondern auch das Stigma historischer Gewalt erkennt und daraus eine Grenze der Subjektkritik ableitet; und wenn sie dennoch vor der Überwindung dieser Aporien zurückzuckt und sie nur weiter zuspitzt — so bezeugt diese Öffnung und diese Offenheit eine wesentlich philosophische Hartnäckigkeit: die Suche nach einer nicht- heroischen Geste des Widerstands.
Elisabeth Weber: Verfolgung und Trauma . Zu Emmanuel Lévinas' Autrement qu'être ou au-delà de l'essence , Passagen Verlag Wien, broschiert, 256 Seiten, 64DM
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