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Dieses Jahr in Marienbad

■ Das Fin de siecle wird in Marianske Lazne in der CSFR wieder lebendig

Déjà vu: In der Halle des Kurhotels Kavkaz blinken die Lüster von der stuckverzierten Decke. Schwere Polster, müde, fast elegisch, ruhen auf den dicken Teppichen. Eine blasse Frau läßt sich erschöpft auf einem der Sessel nieder, blickt versonnen durch gardinenverhangene Fenster. Die Last des Daseins hat bittere Spuren um ihren einst lebensfrohen Mund gegraben. — War es erst gestern oder im vorigen Jahrhundert, als sich dieses Bild ins Gedächtnis gegraben hat? Die Erinnerungen verschwimmen, Vergangenes und Gegenwärtiges sind gleichsam lebendig in Mariánské Lázně, in Marienbad.

Ob dieses Bild eine tatsächliche oder imaginierte Erinnerung ist, bleibt beim Anblick des traditionsreichen böhmischen Kurorts unerheblich. Die ganze Stadt, im Westen der Tschechoslowakei gelegen, wirkt wie ein einziges Freilichtmuseum, konserviert aus einer Zeit, die bereits zu ihrer Blüte dem Untergang geweiht war. Ein Ort für letzte Dinge.

„...es ist einfach so, wie die glückliche Prinzessin aus den Märchen es hat alles: Jugend, Schönheit, einen großen Reichtum, die Gabe zu heilen, das Vertrauen aller Menschen und dabei eine ganze Reihe von wunderbaren Tugenden — auch die Tugend der Verschwiegenheit! So still liegt es im Schoße der Berge, so verborgen und bescheiden! Aber ein einziger Blick genügt, und du bist bezaubert...“ Der tschechische Dichter Jan Neruda faßte Mitte des vergangenen Jahrhunderts seinen Eindruck in diesen emphatischen Worten zusammen. Aber ja, Mariánské Lázně ist schön. Es hat die Schönheit einer alten Schmuckschatulle, die nach langen Jahren geöffnet wird und deren Inhalt wohl von Staub bedeckt, aber dennoch preziös ist. Prachtvoll mit Stuck, Türmchen und Erkern verzierte Häuser, goldfarben, oder auch „kaisergelb“, wie es einst hieß, ziehen sich wie eine schwere Goldkette die Hauptmagistrale entlang. Villen von unerhörter Gediegenheit und kleine, tempelartige Gebäude, in denen Restaurants oder die Trinkbrunnen, für die Mariánské Lázně berühmt ist, diskret auf Besucher warten, bilden die Juwelen. Und dann die große gußeiserne Kolonnade, die den Namen von Maxim Gorki trägt, und das hochherrschaftliche Kurhotel Kavkaz, das manche Einwohner immer noch oder jetzt wieder „Haus Weimar“ nennen — sie sind die Solitäre. Der Samt, auf dem das architektonische Geschmeide ruht, besteht aus Parkanlagen, die fast unmerklich in die ringsum liegenden Wälder übergehen.

Richard Švandrlík, Direktor des örtlichen Museums und parteiloser Stadtverordneter, reißt mit Temperament und Engagement aus solchen romantischen Träumereien. „Fassade, alles Fassade. Sehen Sie, was die alten Machthaber aus diesem Schmuckstück gemacht haben?“ Er stürzt zum repräsentativen Seiteneingang des Goethe-Hauses, in dem das Museum untergebracht ist. „Allein schon in diesem Haus: Kristallleuchter und Marmortreppe, auf der das Wasser bei Regen durch die undichte Tür rinnt. Feuchtigkeit und Kälte zerstören die historische Substanz. Aber es mußte ja unbedingt prachtvoll aussehen.“ Er weist auf ein großes Gemälde gleich im Eingangsbereich, ein alter Stich, der das gesamte Panorama Marienbads aus dem vergangenen Jahrhundert darstellt. „Ein Unikat, dazu noch das Original. Und wissen Sie, was damit geschehen ist?“ Er schiebt den kunstlosen Rahmen leicht vor. „Weil es hier hängen mußte und weil der Platz nicht ausreichte, hat man dieses wertvolle Stück einfach ungeschützt an den Seiten umgeknickt.“ Dieser Frevel tut ihm sichtlich im Herzen weh.

Konservierung eines historischen Stadtbildes

Richard Švandrlík ist erst nach der Wende zum Direktor des kleinen Museums ernannt worden. Zuvor arbeitete er im Institut für Balneologie, stellte Hunderttausende von Zahlen auf, um die Zukunft der Bäderwirtschaft zu erforschen. Als er das Museum 1990 übernahm, machte er zunächst eine niederschmetternde Bestandsaufnahme. Er selbst hatte ein Buch über die Geschichte Mariánské Lázněs verfaßt, liebt seine Heimatstadt. Doch was in dem kleinen, fast 200 Jahre alten Haus, in dem seinerzeit Goethe lebte, den Besuchern präsentiert wird, hat mit der glanzvollen Geschichte des mondänen Kurorts nur wenig zu tun, stammt vielmehr aus anderen Orten und Epochen. Wohl waren — und sind derzeit noch — Kunstwerke von besonderem Wert ausgestellt. Doch, so Švandrlík, ohne Sinn und Verstand, von einer künstlerischen Konzeption ganz zu schweigen. Als Stadtverordneter in einem vorwiegend von Grünen und Vertretern des Bürgerforums besetzten Parlament erhofft er sich einen gewissen Einfluß auf den Erhalt nicht nur des Museums, sondern auf die gesamte historische Pflege der Stadt. Denn seit achtzig Jahren blieb der Ort nahezu unverändert. Eine wohl einmalige Konservierung eines geschlossenen historischen Stadtbildes. „Unser Bürgermeister ist ein Grüner. Wir kämpfen alle darum, daß Marienbad weder architektonisch noch ökologisch zerstört wird.“

Mariánské Lázně ist trotz seines morbiden Charmes noch eine junge Stadt. Vor noch nicht einmal 200 Jahren gab es in dem Tal am Südrand des Gebirgszuges Slavkovský les nur Sumpf und Wald. Das gesamte Gebiet gehörte dem Orden der Prämonstratensermönche, die etwa zwölf Kilometer vom heutigen Marienbad entfernt, in Teplá, in einer weitläufigen Klosteranlage lebten. Etwa vierzig Quellen entsprangen in der sumpfigen Wildnis, von den wenigen dörflichen Bewohnern der Umgegend wurden sie bereits im 16. Jahrhundert wegen ihrer Heilkraft geschätzt. Doch erst der Arzt Josef Jan Nehr, der Ende des 18. Jahrhunderts als Ordinarius ins Kloster Teplá berufen wurde, überprüfte die Heilkraft des Wassers und überredete den Abt Karel Kašpar Reitenberger die Quellen kommerziell zu nützen. 1808 entstanden die ersten Bauten der Ansiedlung, die nach der Marienquelle, in deren Nähe ein Bildnis der Maria stand, Marienbad benannt wurde. Die Stadt wurde in Gänze auf dem Reißbrett geplant, kein baulicher Wildwuchs sollte die Harmonie und die edle Gestaltung des Ensembles stören. Goethe, der in seinen letzten Lebensjahren mehrmals in Marienbad weilte, erhielt den Eindruck „als befände ich mich in den nordamerikanischen Wäldern, wo man in drei Jahren eine Stadt baut“.

1818 erst wurde Marienbad als Kurort offiziell anerkannt. Der Ausbau der Stadt schritt rasch voran. Doch hielten sich die wenigen Architekten, die mit dem Bau beauftragt waren, bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts streng an die ursprüngliche Planung, auch wenn jede Epoche ihren jeweiligen Geschmack in den Details durchschimmern ließ. Der Gartenbauarchitekt Václav Skalník, ein Zeitgenosse des Arztes Nehr, integrierte die Parkanlagen geschickt in die umliegende Natur und achtete zeitlebens darauf, daß kein Gebäude aus der architektonischen Reihe tanzte.

Magnet für die Reichen und Berühmten der Welt

Die exklusive Schönheit Marienbads und die Heilquellen zogen alsbald die Reichen und Berühmten aus aller Welt an. Hier kurierten nicht nur Goethe, Chopin, Gorki, Gogol, Liszt, Smetana und Mark Twain, sondern auch, neben anderen Angehörigen des Adels, der österreichische Kaiser Franz Joseph und der englische König Edward VII. ihre vielfältigen Leiden aus. Die Trink- und Badekuren wurden und werden bei Erkrankungen der Nieren und Harnwege, bei Stoffwechselstörungen, Hautkrankheiten sowie bei Erkrankungen der Gelenke und Atemwege angewendet. Das Quellwasser, das in den Brunnen für jeden zugänglich ist, schmeckt stark nach Eisen, die Mineralsalze zergehen förmlich auf der Zunge.

Ludmila Petřík-Mlýnova, Dolmetscherin aus dem nahegelegenen Karlovy Vary, Karlsbad, weiß die zweifellos gesunden, aber doch etwas befremdlich schmeckenden Wasser auf animierende Weise anzupreisen: „Die drei Brunnen der Ambrosiusquelle heißen eigentlich Liebesquelle. Die eine ist für Verheiratete, die andere für Verliebte und die dritte für Alleinstehende und Fremdgänger.“ Sie schmunzelt verschmitzt. „Was meinen Sie, mit welcher Begeisterung die Leute das Wasser trinken!“ Spannend auch zu beobachten, wer von welchem Brunnen kostet...

Auf Goethe jedenfalls muß diese Quelle einen nachhaltigen Einfluß gehabt haben. In Marienbad verliebte er sich auf seine alten Tage in die 17jährige Ulrike von Levetzow, seine letzte Liebe. Sein Freien, das er verschämt nicht selbst wagte, sondern seinem Weimarer Freund Herzog Karl August überließ, blieb jedoch ohne Erfolg. Zu groß schien der Mutter der Angebeteten der Altersunterschied. Enttäuscht kehrte Goethe nach Weimar zurück und ward in Marienbad nie mehr gesehen. Die glücklose Leidenschaft inspirierte ihn immerhin zu einigen seiner schönsten Liebesgedichte, den „Marienbader Elegien“.

„Dabei wäre das eine so hervorragende Partie für das Fräulein von Levetzow gewesen“, erläutert Richard Švandrlík bei der Führung durch Goethes Wohnräume im Museum. Sein Pragmatismus schweift jedoch rasch wieder in die Gegenwart. Empört berichtet er von dem riesigen umzäunten Bauplatz inmitten der Stadt. Die historischen, baufälligen Häuser wurden 1977 abgerissen, um einem überdimensionierten Sanatorium Platz zu machen. Noch kurz nach der Wende, Anfang 1990, ließen die Stadtoberen der alten Garde Beton aufschütten. „Jetzt überlegen wir, was wir mit diesem Platz machen sollen. Die alten Pläne werden auf keinen Fall verwirklicht. Es ist ohnehin kein Geld dafür da. Eine US- Firma hat angeboten, ein Hotel zu errichten. Aber, so Švandrlík, strengste Auflage des grünen Stadtrates sei, daß jeglicher Neubau in das historische Ensemble eingepaßt werde. Ein internationaler Wettbewerb ist ausgeschrieben. Bis Juli muß die Entscheidung fallen. „Wenn nichts Vernünftiges dabei rauskommt, wird der Platz zur Erweiterung der Parkanlagen genutzt.“ Womöglich ist dies auch die preiswerteste und zugleich ökologischste Lösung. Doch Bettenkapazität wird gebraucht. Tourismus ist die große Chance Mariánské Lázněs, an das Geld zu kommen, das für den Erhalt der alten Gebäude notwendig ist.

Befreiung durch die US-Armee

Bereits viele der verwitterten Häuser wurden seit 1986 renoviert. Wie Hochzeitstorten wirken die gelb oder manchmal auch rosa getünchten Gebäude mit ihren weißen Zuckergußschnörkeln. Doch dem Anstrich werden bestenfalls noch fünf Jahre gegeben. Die Qualität der Farben lasse reichlich zu wünschen übrig, heißt es. „Eben alles Fassade“, wie Richard Švandrlík schon sagte.

Aber auch ein anderer Schmuck an den Häusern ist neu und wirkt mehr als befremdlich: An diesem ersten Maiwochenende hängt nahezu an jedem Haus die US-Flagge. „Zu Ehren der Befreiung 1945 durch die US-Armee“, erläutert Richard Švandrlík stolz. „Mehr als vierzig Jahre wurde diese Tatsache geleugnet. Offiziell hat uns die Rote Armee befreit. Dabei waren es doch die Amis, die damals in Böhmen einmarschiert sind und dem deutschen Faschismus ein Ende bereitet haben.“ Im vergangenen Jahr, 1990, wurde dieser Tag der Befreiung mit allem machbaren Pomp gefeiert. „Ich habe mir für den Umzug Jeans und ein amerikanisches Armeehemd angezogen“, erklärt Švandrlík den fassungslosen deutschen Besuchern. „Bei euch in Deutschland wäre das wohl nicht möglich“, merkt er an. Zu den Feierlichkeiten wurde auch Shir

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ley Temple, ehemaliger Kinderstar und US-Botschafterin in Prag, eingeladen. Sie wurde nicht nur durch das Aufgebot US-amerikanischer Insignien und Sympathiebekundungen geehrt, sondern auch gleich zur Ehrenbürgerin Mariánské Lázněs ernannt. Eine der ersten Amtshandlungen Švandrlíks als Museumsdirektor war dann auch die Installation eines Schaukastens über dieses Ereignis im alterwürdigen Goethe-Haus.

Die Feierlichkeiten in diesem Jahr wurden vergleichsweise weniger aufwendig abgehalten. Im Kurpark organisierten Soldaten der tschechoslowakischen Armee ein kleines Volksfest. Verkaufsstände und Spielbuden boten zu böhmischer Blasmusik neben allerhand Kitsch auch die Besonderheiten der Gegend an: böhmisches Glas, bäuerliche Keramik und köstliche Lebkuchen.

Im Kurhotel Kavkaz, bei Palačinký mit Smetana — Pfannkuchen mit Sahne — samt türkischem Kaffee, taucht die Erinnerung an die Glanzzeit Mariánské Lázněs wieder auf und irritiert die gegenwärtigen Wahrnehmungen. Doch der Teppich in der Halle ist abgewetzt, die schweren Polster stammen aus den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts, und die erschöpfte Frau, die sich mit leerem Blick in den Sessel sinken läßt, gehört nicht der feinen Kurgesellschaft des Fin de siècle an, sondern sie ist Kellnerin im noblen Hotelrestaurant, die sich vom Servieren unzähliger Knödel mit Schweinebraten und Sauerkraut ausruht. Profane Gegenwart.

Und doch! Die kristallüsterne Schwermut, die vornehme Diskretion eines ehemals exklusiven Kurortes durchzieht noch immer mit fast greifbarer Dichte die Atmosphäre. Es scheint, als würde in der nächsten Minute ein vergeistigter Musiker oder eine blasse Prinzessin das Eingangsportal durchschreiten. Ein Déjà-vu-Erlebnis bleibt von Marienbad.

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