Die Falten des Lebens

■ »Gurs — Deutsche Emigrantinnen im französischen Exil« — eine Fotoausstellung im Werkbundarchiv

In einem großen halbdunklen Raum sehen einen zehn Frauen an. Ein Raunen erfüllt den Saal. Die Stimmen der Frauen. Sie kommen aus kleinen Lautsprechern in Ohrhöhe, die an langen Schnüren von der Decke herabhängen und mit eben diesen Schnüren im Boden verankert sind. Zehn Lautsprecher, zwanzig Schnüre in einer Reihe. Man steht davor wie an einem Zaun, das Ohr am Lautsprecher und schaut auf die Frauen drüben jenseits des freien Raums. Zehn lebensgroße Portraits, Schwarzweißfotografien. Auch sie hängen an langen Drähten von der Decke herab. Freischwebend im Raum mit ihren schweren schwarzen Eisenrahmen.

Die Frauen sind alt. Sie schauen die Betrachterin an, oder sie schauen nach Innen. Zwei von ihnen sind erblindet. Edith Aron zum Beispiel. Ihre Augen sind nur noch zwei schmale Schlitze in einem zerknitterten Gesicht. Die feinen Haare sind straff nach hinten genommen. Sie trägt einen geblümten Morgenmantel, der Stock lehnt, halb versteckt, neben ihr am Sofa. »Die Augen und die Hüften, das war das erste, was sie mir alle erzählt haben«, sagt die Fotografin Birgit Kleber, die diese Frauen — zwischen 68 und 93 Jahre alt — an ihren jetzigen Wohnorten in Paris, New York, Paolo Alto und Oakland aufgesucht hat. Geboren wurden sie in Berlin, Frankfurt und Nürnberg, in München, Anklam oder Warschau. Fast alle sind Jüdinnen. Trotz aller Unterschiede im Aussehen und in ihrem Lebensweg haben sie eins gemeinsam: alle waren in Gurs, einem Internierungslager am Fuße der Pyrenäen. Zwischen 1939 und 1944 waren dort etwa 60.000 Menschen interniert — zuerst nur »unerwünschte Ausländer«, wie es hieß, später auch Juden von überallher.

Ilse Bing zum Beispiel. Sie war schon 1930 nach Paris gegangen, um dort als Fotografin zu arbeiten. 1937 heiratete sie den Pianisten Konrad Wolf und wurde im Mai 1940 in Gurs interniert. Für wenige Wochen nur, denn sie konnte mit ihrem — ebenfalls internierten — Mann 1941 nach Amerika ausreisen. Auf dem Bild sehen wir sie mit ihrem Kleinmädchen- Pony und den schweren Tränensäcken unter den Augen. Im linken Arm hält sie — wie einen Teddybär — ein kleines Foto von sich als junger Frau.

Jugend und Alter: Ingo de Croux, Tochter der Malerin Lou Albert-Lasard hat tiefschwarz gefärbtes Haar — ein krasser Gegensatz zu ihrem faltigen Gesicht. Aber die Augen: groß und neugierig blicken sie die Zuschauerin an. Und die Hände: wie Schlangen zeichnen sich die Adern unter den dünnen Altershaut ab. Ingo de Croux war 29, als sie und ihre Mutter in Gurs als »feindliche Ausländer«, wie es hieß, interniert wurden. Nach sieben Monaten kamen sie wieder frei. In Marseile wurden sie noch einmal, diesmal in einem Hotel, festgehalten. Doch der Präfekt ließ sich bestechen mit Zeichnungen von Lou Albert-Lasard. Mutter und Tochter kehrten nach Paris zurück und überlebten die Besatzungszeit in ihrem Atelier.

Lou Albert hat das Leben der Frauen im Lager Gurs in Zeichnungen festgehalten. Frauen, die auf den Bahnschienen sitzen und plaudern. Frauen beim Waschen an den Waschtrögen draußen. Ständig gingen die Wachposten dort auf und ab. Kleine Zeichnungen sind das, mit blauen zarten Tintenstrichen, Skizzen des Lageralltags und seiner Rituale.

Dieser Alltag, die Geschichte des Lagers Gurs wird in einem Extraraum des Werkbundarchis im Martin-Gropius-Bau dokumentiert. Gabriele Mittag hat dafür Fotos, Zeichnungen und Briefe zusammengesucht: Ankündigungen von Kulturveranstaltungen, Fotos von Säuglingen vor der Entbindungsbaracke, einen Brief von Dora Benjamin an ihren Bruder. Gabriele Mittag hat auch die Interviews gemacht, die aus den Lautsprechern kommen.

1939 wurde Gurs, das größte der 480 Internierungslager Frankreichs, gebaut. Zunächst wurden hier 20.000 republikanische Spanienkämpfer interniert, die nach Francos Sieg über die französische Grenze geflüchtet waren. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden die deutschen Emigranten verhaftet und als Staatsfeinde und »unerwünschte Ausländer« in die Lager gebracht. Im Mai 1940 wurden auch alle deutschen und österreichischen Frauen festgenommen. Bis Juni 1940 kamen fast 10.000 Frauen in das Lager Gurs: politisch aktive Frauen wie Lisa Fittko, Jüdinnen, Sinti- und Romafamilien und auch deutsche Nazi-Anhängerinnen. Alle wurden in Baracken zusammengepfercht: 60 Frauen auf engstem Raum. Strohsäcke, Wassersuppe, Kälte. Wenn es regnete, verwandelte sich das Lager in eine Schlammwüste. Im Sommer gab es kaum Schutz vor der Sonne in dieser Ödnis.

Und dann die Juden: Am 22.Oktober 1940 wurden 6.500 Juden aus der Pfalz und Baden in einer Nacht- und Nebelaktion verhaftet und nach Gurs deportiert. Vor der »Endlösung der Judenfrage« hatte es den sogenannten »Madagaskar Plan« gegeben: Die Insel Madagaskar sollte Siedlungsraum für die europäischen Juden werden. Dazu kam es nicht. Die badischen Juden waren zum Teil sehr alte Leute: sie hielten der Kälte, dem Hunger, den Krankheiten nicht stand. 800 Juden sind so umgekommen. Und dann die großen Deportationen: Am 6.August 1942 verläßt der erste Zug das Lager Gurs in Richtung Osten. 3.900 Personen sind von dort aus in die Vernichtungslager abtransportiert worden.

Vom Lager Gurs ist nichts übriggeblieben: Nur den kleinen jüdischen Friedhof gibt es noch und die Lagerstraße. Und da sieht man sie auch oben an der Wand auf einem Foto: grau und schwarz, grobkörnig und verlassen. Barbara Rosenberg

Bis 16. Juni im Werkbundarchiv im Martin-Gropius-Bau, Stresemannstraße 110