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Stück ohne Ende

■ Das Ikaro Theater mit Bernhard Koltes »Quai West« im Tacheles

Im Westen von New York, in Manhattan, in einem Winkel des Westend, da, wo sich der ehemalige Hafen befindet, gibt es Docks; es gibt speziell ein aufgegebenes Dock, einen großen, leeren Hangar, in dem ich versteckt ein paar Nächte zugebracht habe. Er ist ein äußerst bizarrer Ort — ein Unterschlupf für Penner, Schwule, Deals und Abrechnungen, ein Ort, an dem dennoch die Bullen aus unerfindlichen Gründen nie erscheinen. Sobald man dort eindringt, erkennt man, daß man sich an einem privilegierten Ort dieser Welt befindet. (...) Ein Ort, an dem die übliche Ordnung nicht existiert, an dem statt dessen eine andere, sehr merkwürdige Ordnung existiert. (...) Dieser Hangar wird bald zerstört werden.«

So Bernard Koltes selbst zu seinem Anfang der achtziger Jahre geschriebenen Stück Quai West. Diesen außergewöhnlichen Ort, der alles mögliche berherbergen kann, hat Carlos Medina mit seinem Ikaro-Theater kongenial in einen Hangar anderer Art plaziert: in die dafür hergerichtete Ruine des Kunst- und Kulturzentrums Tacheles. Eine extreme Korrespondenz zwischen der leeren, kalten und lichtlosen Atmosphäre des Stücks und dem weiten, durchlöcherten und eine ehemalige Pracht verratenden vormaligen „Camera“-Kinosaals bis hin zur realen Kälte geben seiner Quai West-Inszenierung große Gewalt. Carlos Medina setzt auf diese Parallele, läßt die Schauspieler ihr Spiel im Dunkeln beginnen, zieht nur allmählich Licht auf, ein wenig Mond zunächst, später eine fahle Sonne. Die wuchtigen, quaderartigen Säulen, die die Bühne begrenzen, bilden das visuelle Gegenstück zu Koltes Sprachquadern, unpsychologischen Elementarsätzen eines zwischen realistischen und symbolischen Situationen oszillierenden Stücks.

Im Vergleich zum Vakuumpack des Schaubühnen-Koltes ist Medinas Koltes-Inszenierung dreckig, unharmonisch und unaufgelöst. Wie draußen auf der Straße entwickelt sich das Spiel aus Krämpfen, kommt die Bewegung in Schüben, kommt es zwischen den Personen zum Knall, folgt eine Kette von Karambolagen, dann verebbt das Spiel wie Wasser am Quai, beruhigt sich, schläft fast wieder ein. Von Lethargie und Lebensgier zugleich getrieben, werden die Personen ins Geschehen gespült. Es ist, als sähen sich die Akteure selbst zu, wenn sie sich zu leidenschaftlichen Ausbrüchen aufwerfen, wenn sie sich auflehnen gegen Dreck und Erbärmlichkeit, und wenn sie zurückfallen in die Rolle von Statisten, unbeteiligt am Spielfeldrand. Die Aufführung ist eben deswegen schwer auszuhalten. Da es keinen durchgängigen dramaturgischen Spannungsbogen gibt, bewegt sich auch der Zuschauer zwischen Anspannung und Indifferenz, ist selbst so ein Stück Strandgut am Quai West, das mal oben schwimmt und dann wieder wegtaucht. Weil es so kalt ist, ist er selbst verkrampft, in einer Gier nach Gemütlichkeit. Es wird ihm immer unwohler, wie er merkt, daß das Stück nie zu Ende geht. Wie Schachfiguren laufen die Schauspieler die vorgezeichneten Bahnen dieses Weltrechtecks ab. Man glaubt sie schon abgetreten, da tauchen sie hinter einer Säule wieder auf, sie wollen nicht verenden, quälen einen damit. Besessen zerren sie an diesem Leben, wollen nicht aufhören mit ihrem Totaleinsatz. Im nervösen Tänzeln auf der Stelle von Claire, der Tochter, die erstmalig das Gehen auf dem Strich probiert, spricht sich die Grundverfassung des Stückes aus, weshalb es in diesen Raum und in die Ost-Stadt so paßt. Medinas Kraft ist es, dieses schwere Tacheles-Gebäude, dessen Zerstörung als Last auf Spiel und Zuschauer drückt, mit einer menschlichen Zerstörung gestützt zu haben, die viel Vitales und Aufbegehrendes hat. Michaela Ott

Weitere Vorstellungen am 27. bis 29. Mai und 16., 17., 19. und 21. Juni. 20 Uhr im Tacheles, Oranienburger Straße 52-56.

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