: GEW hat "eine historische Chance verstreichen lassen
■ Betr.: "Brandenburgs LehrerInnen lernen Lohnverzicht", taz vom 22.5.91
betr.: „Brandenburgs LehrerInnen lernen Lohnverzicht“ von Vera Gaserow, taz vom 22.5.91
Bravo Vera, eine so positive Sichtweise, aus der heraus Du schreibst, ist in westlichen Gewerkschaftskreisen durchaus nicht üblich. In der GEW Berlin, deren Mitglied und Funktionär ich bin, stieß das „Brandenburger Modell“ bei den meisten auf barsche Kritik.
Interessant allerdings, daß je mehr die KollegInnen mit den Problemen in den neuen Bundesländern — und dazu gehört auch Berlin zur Hälfte — befaßt sind, sich die Sichtweise zum Positiven wendet. Im Westen nichts neues: „Verzichtsmodelle, Lafontainediskussion, das hatten wir alles schon, kein gangbarer Weg“, so der Tenor der Meinungen. In den achtziger Jahren hatte die GEW mehrfach versucht, über sogenannte Verzichtsmodelle mit der Solidarität der Beschäftigten arbeitslose LehrerInnen in Lohn und Brot zu bringen. Diese Konzepte scheiterten an der Haushaltssouveränität der Parlamente, denn dort sparte man das „freiwillig verzichtete“ lieber ein anstatt neue Stellen zu schaffen — in Berlin allein 1.600 Stellen von 1982 bis 1987!
Der entscheidende Unterschied zur Diskussion der achtziger Jahre liegt in der Konstruktion des Brandenburger Modells: Ein Vertrag zwischen den Gewerkschaften und der Landesregierung bindet beide, wie ein Tarifvertrag.
Ich will der Diskussion zwei weitere Aspekte hinzufügen.
1.Das Brandenburger Modell hat einen großen Fehler, nämlich daß hier die Solidarität der Schwachen geübt wird. Dies ist aber in erster Linie ein Versagen der GEW. Wenn ca. 600.000 LehrerInnen in den alten Bundesländern einen fiktiven Beitrag zur Arbeitslosenverischerung zahlten, profitierten die verbeamteten LehrerInnen von der diesjährigen Tariferhöhung so, wie alle anderen ArbeitnehmerInnen auch. Sie hätten mithin keinen Pfennig weniger an Zuwachs in der Lohntüte wie die ArbeiterInnen und die Angestellten auch, denn für die ArbeitnehmerInnen wird der Beitrag für die Arbeitslosenversicherung um 2,5 Prozent erhöht — 1,25 Prozent zahlt die/der ArbeitnehmerIn und 1,25 Prozent der Arbeitgeber. Übertragen auf die verbeamteten LehrerInnen wäre das ein Betrag von ca. 800 bis 900 Millionen DM. Dafür ließen sich derzeit immerhin ca. 30.000 LehrerInnenstellen in den neuen Bundesländern sichern. Wäre es denn nicht sinnvoll, die so geschaffene „überschüssige Arbeitszeit“bei den einzelnen LehrerInnen in großzügig konzipierte Fort- und Weiterbildungsprogramme umzusetzen?
Meine Kritiker wenden an dieser Stelle ein, daß ein solcher Beitrag in den Händen des Staates zu allem möglichen führt, nur nicht zu mehr Beschäftigung. Richtig, aber warum schaffen wir keinen Fonds für Beschäftigungsprogramme, der — vertraglich abgesichert — von den Bildungsministerien und den Gewerkschaften verwaltet wird?
2.[...] In der beruflichen Bildung schließt man einfach alle Schulen Ost-Berlins an die Schulen in West- Berlin als Filialen an. Der staatliche Anschluß übertragen auf die einzelne Schule, welch phantasievolle Lösung der Verwaltungsbürokraten aus der Bredtschneiderstraße! Eine bildungspolitische Debatte über den hier konzipierten Unsinn wäre dringend erforderlich, wobei die Ost- Berliner KollegInnen ihren Unmut in bessere Modelle fließen lassen müßten. Das ist zur Zeit völlig illusorisch, da unsere KollegInnen in Ost- Berlin mit der Sicherung ihrer Arbeitsplätze befaßt sind — aus naheliegenden Gründen. Wenn im nächsten Schuljahr unsere KollegInnen aus Ost-Berlin wissen, ob sie weiterhin einen Arbeitsplatz haben, ist die strukturpolitische Debatte geführt und die Entscheidungen sind getroffen — von West-KollegInnen. Den gordischen Knoten hat das Brandenburger Modell durchschlagen, denn in Brandenburg wird mehr und mehr über Bildungspolitik diskutiert, weil die Arbeitsplatzfrage, Hauptsorge aller, in den neuen Bundesländern gelöst ist.
Mit der Forderung „Keine Sonderopfer für Beamte“, mit der auch die GEW in die Verhandlungen zur Übertragung des diesjährigen Tarifergebnisses gegangen ist, hat die GEW eine historische Chance verstreichen lassen. Hans-Jürgen Lindemann,
Lehrer West-Berlin
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