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Malewitsch auf Förderbändern

■ Das holländische Griftheater eröffnet in der Zeche Zollverein die kulturellen „Freiräume“ des Kirchentags

Die Seilwinde surrt. Ein knapper Befehl des Bergmanns, ein Zuruf in die Etage, die unterhalb liegt. Dann ruckt das Drahtseil erneut an, ein Haken erscheint in der Öffnung am Boden. Daran hängt eine zentnerschwere Eisenscheibe, die der Arbeiter mit zwei Griffen ausklinkt und zur Seite rollt, bevor er den Flaschenzug für die nächste Ladung freigibt. Doch plötzlich gerät der mechanische Takt aus den Fugen. Am nächsten Haken hievt der Arbeiter eine Ladung Schauspieler empor. In den Gurten verharren zwei Menschen hilflos in ihrer mißlichen Pose. Der Mann an der Winde läßt sie zappeln; ein kleines, hämisches Lachen, dann schlurft er von dannen.

Schauspieler als Stückgut am Haken, weggehängt wie die Arbeitsklamotten der Bergleute in der Waschkaue, kaputte Menschen an Maschinen, abgeklaubt von einem Faktotum, das den menschlichen Sondermüll mit der Schubkarre entfernt. Figuren auf Förderbändern in Kostümen des russischen Futuristen Kasimir Malewitsch, abwärts schreitend wie willenlose Marionetten in einer undurchschaubaren Maschinerie. Metropolis und Moderne Zeiten im Ruhrgebiet, so stellt sich das Bühnenbild des niederländischen Griftheaters dar — ein Schauspiel am Originalschauplatz, in einer stillgelegten Zeche.

Zwei Z und die Zahl zwölf, der Titel des Theaterstücks. ZZZ steht für Zeche Zollverein, Schacht zwölf, und jedem, der das Zechengelände in Essen zum ersten Mal sieht, wird klar, warum die Niederländer von der Industrieanlage so überwältigt waren, daß jedes Wort versagte und drei Buchstaben blieben: das Ende des Alphabets, gleich zu Beginn ein dreifacher Schlußpunkt.

1932 haben die Architekten Schupp und Kremmner die Schachtanlage in Anlehnung an den Bauhausstil gestaltet, eine kleine Stadt für sich, mit eigenem Kohlekraftwerk und eigener Verkehrsführung. In drei Hallen der unter Denkmalschutz gestellten Zeche führen die acht Mimen und zwei Musikanten jetzt durch die Kulisse einer untergegangenen Industriekultur und zeigen damit doch nur ein Zehntel des gigantischen Baus. Das geht an die Grenzen der Vorstellungskraft. Schon beim Betreten des Gebäudes reißt ein befremdender Sog hinein in eine Atmosphäre der Unwirklichkeit, die selbst den Schauspielern beinahe zuviel wurde. „Die Zeche hat uns fast aufgefressen“, gesteht Regisseur Frits Vogels, der beim jubelnden Applaus des Premierenpublikums sichtlich erleichtert wirkt, daß das Anspielen gegen die Größe diesmal mit dem Sieg der Schauspieler über die Maschinen geendet hat.

Das Griftheater hat ein Gespür für die Atmosphäre des Raumes entwickelt, das vielen der bisherigen Inszenierungen auf industriellem Terrain fehlte. Es ist ein Kampf der Elemente und der Lichtstimmungen: Feuer und Eisen, metallische Klänge des Industrielärms, der dennoch melodisch sein kann; Licht, vom auffliegenden Kohlenstaub tausendfach gebrochen. Mal schwirren Lichtpunkte von Taschenlampen wie Glühwürmchen über die vergitterten Laufstege hoch über den Köpfen der Zuschauer, dann züngeln Flammen am Eisengeländer empor; erst in dieser Spannung erwacht das tote Industriedenkmal noch einmal zum Leben.

Manchmal vermeint man den Arbeitsrhythmus der letzten Schicht zu hören und in der großen Stille, die Frits Vogels immer wieder einkehren läßt, entsteht so etwas wie Andacht an einem Ort, dessen Dimension wohl niemals endgültig zu erfassen ist — nicht von den Schauspielern, nicht von den Arbeitern, die hier einmal geschuftet haben und nicht von den Gästen, die wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben das Schild „Betreten der Bergwerksanlage für Unbefugte verboten“ hinter sich gelassen haben. Und damit niemals auch nur einen Augenblick lang der Eindruck entstünde, daß man sich vielleicht in einem Theater mit einer nur etwas ungewöhnlichen Kulisse befindet, läuft immer mal wieder ein Bergmann durch die Tanzszene und holt alles in eine Wirklichkeit zurück, die es so nicht mehr gibt- zumindest im Ruhrgebiet.

Mit dem Griftheater wurde das mehrwöchige Programm „Freiräume“ eröffnet, ein wohl in dieser Form einmaliges Kulturprogramm zum diesjährigen Kirchentag im Ruhrgbiet. Neuland hat die Evangelische Kirche von Westfalen betreten, weil hier zum ersten Mal nicht nur ein kulturelles Beiprogramm zu einer Mammutveranstaltung geliefert wird, sondern der Partizipation der Künstler volle Eigenständigkeit zuerkannt wird. So kommt es zu ungewöhnlichen Veranstaltungen wie den literarischen Predigten, bei denen auch ausgewiesene Atheisten von der Kanzel in der Kirche sprechen können. Gerhard Zwerenz wird diesen Freiraum in Anspruch nehmen.

Dem Stück des Amsterdamer Bewegungstheaters in der Zeche Zollverein wäre zu wünschen, daß es nicht nur die jugendlichen Zuschauer anspricht, die zur Premiere kamen. Aber auch hier zeigt sich wieder einmal die Diskrepanz zwischen dem Anspruch, mit den Ruinen der industriellen Vergangenheit zu experimentieren, und einer Wirklichkeit, die ein eher unterbelichtetes Bild von den Bergleuten zeichnet, die hier einmal eingefahren sind. ZZZ arbeitet mit abstrakten Assoziationen über die funktionalen Aspekte der einstmals gigantischen Produktion. Die Menschen darin wirken lediglich wie Anhängsel des gewaltigen Maschinenkomplexes. Das ist richtig gesehen und zugleich falsch. Denn es ist nur der erste, mechanistische Blick auf eine Form der Industriearbeit, die von den Bergleuten immer mit großer Identifikation und sehr viel Stolz ausgeführt wurde. Sinn und Erfahrung dieses Arbeitsethos gehen verloren, wenn die Menschen verschwinden und nur noch die Maschinen zurückbleiben. Christof Boy

ZZZ , die Inszenierung beginnt mit einer Busfahrt zum Spielort. Es können nur 50 Zuschauer pro Vorstellung mitfahren. Treffpunkt: Essen Haupbahnhof Südeingang. Auskünfte und Reservierungen 0231/54225851. Bis zum 29.Juni

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