: Das Projekt „Europäische Bürgergesellschaft“
In Venedig beriet in angemessener Umgebung eine Versammlung von Enthusiasten über die Zukunft der „civil society“ ■ Aus Venedig Christian Semler
Republikanertum verpflichtet. Die Giunta Regionale des Veneto, um zwei Ecken die Rechtsnachfahrin der ehrwürdigen venezianischen „Serenissima“, hatte vom 23. bis 26. Mai zur Konferenz über das gemeinsame europäische Haus, die Menschenrechte, die europäische Bürgergesellschaft und eine Kultur des Friedens geladen — in der Scuola di San Giovanni Evangelista, unter den Grandi Scuole der Stadt die schönste und prächtigste. Obwohl es kein Thema gibt, das hier nicht schon dem Konferenztourismus zum Fraß vorgeworfen worden wäre: hier handelte die Giunta aus einem echten, legitimen Interesse. Sie ist die einzige Landesregierung Europas, die ein Gesetz über die Förderung einer internationalen Friedenskultur verabschiedet hat. Antonio Papisca, zu Padua Inhaber des — in Europa ebenfalls einzigartigen — Lehrstuhls für Theorie und Praxis der Menschenrechte, war der Architekt des Gesetzes, das konkrete Forschungsprojekte, Kooperationsvorhaben auch nichtstaatlicher Organisationen und den Friedensunterricht in den Schulen fördert. Geladen waren auf westlicher Seite die alten Schlachtrösser der blockübergreifenden Friedensbewegung von Mient-Jan Faber bis zu Dieter Esche, dazu Friedensforscher, Beamte internationaler Organisationen, Aktivisten der demokratischen und Unabhängigkeitsbewegungen aus Osteuropa und der Noch- Sowjetunion, schließlich Vertreter neuer Bürgerinitiativen mit „grenzüberschreitender“ Zielsetzung.
Die endlose Kette der Referate, denen das Publikum mit in unseren Breiten unvorstellbarer Zähigkeit lauschte, kreisten um das Problem einer europäischen „civil society“, deren Verhältnis zur Staatsmacht bzw. den suprastaatlichen Organen und über das Schicksal derer, die von den Segnungen des europäischen Integrationsprozesses ausgeschlossen bleiben. Der englische Sozialwissenschaftler John Keane, Experte für die revolutionäre Epoche der liberalen Theorie, stellte die These auf, daß sich in Europa, gleichlaufend mit der politischen Integration auf staatlicher Ebene, der politische Typus des „demokratischen Republikaners“ herausbilde. Dessen Energie verzehrt sich nicht mehr im antiinstitutionellen Kampf. Er ist praktischer Reformist, Wächter über die Menschenrechte. Seinen „Ort“ findet er in den selbstorganisierten Gruppen und Initiativen, die sich zwischen die Staatsapparate und die vereinzelten Individuen schieben. Andere Redner siedelten die gesellschaftliche Selbstorganisation zwischen Staat und Markt an. Sie betonten die Selbsthilfe im lokalen bzw. regionalen Rahmen und nahmen damit wieder das Thema „Europa der Regionen“ auf. Den Überlegungen von der Gesellschaft als „dritter Kraft“ korrespondierte in der Diskussion die These von der „dritten Generation“ der Menschenrechte, die — nach den politischen und sozialen Grundrechten — die Verteidigung der natürlichen Lebensgrundlagen, die Wirkung von Menschenrechten bei der Gestaltung privater Lebensverhältnisse, aber auch kollektiver Rechte wie der der Minoritäten umfasse.
Gerade dieser letzte Komplex führte mitten in die aktuelle Politik. Der ungarische Professor Andras Kovacs berichtete von der Debatte über den Status der nationalen Minderheiten in seinem Land und führte die Widersprüche vor, in die ein demokratischer Staat bei der Gewährung von korporativen Sonderrechten hineingerät. Im Mittelpunkt der Diskussion stand dann die Frage nach dem künftigen Rechtsstatus von Nicht-EG-Ausländern, die ihren ständigen Wohnsitz innerhalb der EG haben. Wie und mit welchen Mitteln können sie in eine „european citizenship“ miteinbezogen werden? Die Anklagen gegen eine mögliche „Festung Europa“, von den anwesenden Dritte-Welt-Vertretern mit Schärfe vorgetragen, ernteten den üblichen folgenlosen Beifall. Zu den Chancen der Multikulturalität in Westeuropa referierte kenntnisreich und mit skeptischem Grundton der Wissenschaftler Leggewie.
Wie sollen sich die unabhängigen Gruppen der „civil society“ im internationalen Rahmen gegenüber den etablierten internationalen Institutionen verhalten. Unisono versicherten die angereisten Funktionäre der Unesco und des Europarats, die „Unabhängigen“ seien für sie lebenswichtig. sie seien die „Arme“ ihrer Organisation, ohne die sie keine gesellschaftliche Wirksamkeit entfalten könnten. Daß sie sich hierdurch selbst die Funktion des Gehirns anmaßten, wurde nicht nur von dem Rezensenten übel vermerkt.
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