: Indien lernt, ohne den Namen Gandhi zu leben
Mit der Ernennung von Narasimha Rao zu ihrem Vorsitzenden versucht die Kongreßpartei, aus dem Schatten der Gandhi-Dynastie hervorzutreten ■ Aus Bombay Sheila Mysorekar
„Dies ist eine gute Wahl“, war die vorherrschende Reaktion nach der Ernennung von P.V. Narasimha Rao zum neuen Vorsitzenden der indischen Kongreßpartei. Da am Donnerstag der Wahlkampf wieder aufgenommen wurde, konnte der Kongreß mit der Aufstellung eines neuen Vorsitzenden nicht länger warten. Deutlich gesagt wurde allerdings, daß Narasimha Rao nur der vorläufige Kongreß-Chef ist. Nach den Wahlgängen vom 12. und 15. Juni werde man weitersehen.
Im Klartext heißt das: Wenn der Kongreß die Wahlen gewinnen sollte, wird Narasimha Rao nicht unbedingt der neue Premierminister sein. Der 70jährige Narasimha Rao ist ein altgedienter verläßlicher Politiker — der beste Kompromißkandidat, den der Kongreß hätte finden können. Auch unter den Gegnern der Kongreßpartei genießt er einen guten Ruf. Seit 1938 ist er im Kongreß aktiv, 1956 wurde er Vizepräsident dieser Partei. Seit 1977 sitzt er im Parlament. Unter den vielen Posten, die er im Laufe seiner Politikerkarriere innehatte, erinnert man sich besonders an seine Zeit als Ministerpräsident seines Heimatstaates Andhra Pradesh und als Außenminister im Kabinett Indira Gandhis.
Der politische Kommentator Dileep Padaonkar meint, Indien müßte Sonia Gandhi dankbar sein. Ihre Weigerung, den Vorsitz des Kongreß zu übernehmen, führte die Partei zum ersten Mal dazu, einen Vorsitzenden zu wählen, ohne sich — wie in den letzten Jahrzehnten — auf den Namen Gandhi zu verlassen.
Die Reorganisation der Kongreßpartei und das Ende ihrer autoritären Struktur seien, so Padaonkar, erst durch Sonias Ablehnung des Parteivorsitzes möglich geworden. In der Tat ist der Kongreß alles andere als zerschlagen nach Rajiv Gandhis Tod, doch in den letzten 30 Jahren kam in der Partei niemand durch Wahlen zu einem Posten, sondern er oder sie wurde ernannt — im allgemeinen von einem Mitglied der Nehru-Gandhi-Familie.
Innerparteiliche Demokratie?
Nun sind die Kongreß-Politiker zum ersten Mal auf sich allein gestellt, ohne eine oder einen Gandhi an der Spitze. Kongreßpartei-Sprecher Pranab Mukherjee erklärte auf einer Pressekonferenz, die Demokratie in Indien sei nicht in Gefahr. „Das ist richtig“, kommentierte ein Journalist, „aber wie steht's mit der Demokratie in der Kongreßpartei?“ Die Anwesenden lachten, und Parteisprecher Mukherjee wurde ärgerlich. Doch eine befriedigende Antwort konnte er nicht geben.
Die Wahl von P.V. Narasimha Rao kann so als Zeichen positiver Entwicklung der Partei gewertet werden: Es gibt auch in der Post- Gandhi-Ära einen funktionierenden Kongreß. Dies ist nicht selbstverständlich, da der Nehru-Gandhi- Clan immer darauf geachtet hat, daß keine einflußreiche zweite Riege von PolitikerInnen innerhalb des Kongresses aufstieg. Am Namen Narasimha Rao hängt kein Rattenschwanz von Skandalen; er gilt auch nicht als machthungrig. „Stabilität in einem säkularen Staat“, gab er nach seiner Wahl als Parole aus. Die Rückbesinnung auf die säkularen Traditionen der Kongreßpartei könnte im von religiösen und kommunalen Konflikten geschüttelten Indien zu einem Faktor werden, der ihre Anziehungskraft bei vielen Wählern wieder erhöht. Und Stabilität ist nach den Ereignissen der letzten Monate ein zentrales Bedürfnis.
Vimla ist Köchin; sie lebt in Bombay: „Seit 17 Jahren wähle ich den Kongreß, und ich werde wieder Kongreß wählen“, sagt sie. „In den letzten anderthalb Jahren während der Janata-Dal-Regierung sind die Preise so in die Höhe gegangen, daß ich nicht weiß, wie ich Kleider für meine Kinder kaufen soll. Unter Kongreß-Regierungen ist sowas nie vorgekommen.“ Ihr ist egal, ob ein Gandhi die Partei führt oder nicht. „Aber ich finde es gut, daß Sonia Gandhi den Parteivorsitz abgelehnt hat“, fügt sie hinzu. „Sie wäre bestimmt auch umgebracht worden. Und ein Narasimha Rao ist ein ehrlicher Mann.“
Je weiter man in den Süden des Landes geht, um so öfter begegnet man WählerInnen wie Vimla, die dem Kongreß die Treue halten. Der Slogan von der Stabilität wird hier sehr ernst genommen. Der nächste Wahlgang zu den nach der Ermordung Gandhis unterbrochenen Parlamentswahlen wird im Süden stattfinden. Und hier wird über die Zukunft einer Kongreßpartei ohne Gandhi entschieden.
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