START MIT PANNEN?

■ Mit Beginn des Sommerfahrplans 1991 will die Bundesbahn in das "Zeitalter der Hochgeschwindigkeit" einsteigen, während die Reichsbahn Strecken stillegen wird

Mit Beginn des Sommerfahrplanes 1991 will die Bundesbahn in das „Zeitalter der Hochgeschwindigkeit“ einsteigen, während die Reichsbahn Strecken stillegen wird.

Wenn morgen um 05.53 Uhr der erste „Superzug“, der InterCityExpress (ICE), fahrplanmäßig von Hamburg in Richtung Süden startet, werden einige Eisenbahner in Deutschland eine unruhige Nacht hinter sich haben. Sollte dieser ICE namens „Münchner Kindl“ an Sonntag pünktlich um 13.20 Uhr in München ankommen, wird es ihnen schon etwas besser gehen. Dann können sie guten Gewissens das Hochgeschwindigkeitszeitalter bei der Bundesbahn für eröffnet erklären. Und wenn gar der Montag mit seinem Berufsverkehr ohne größere Pannen überstanden ist, werden sie drei Kreuze machen.

Der neue, ab 2.Juni geltende Sommerfahrplan bedeutet für Bundesbahn wie Reichsbahn Umwälzungen im Betrieb, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gab. Und niemand ist sicher, ob das Projekt „Fahrplan '91“ klappt oder nicht. Mit Kritik ist im voraus ebenso wenig gespart worden wie mit Vorschußlorbeeren, und die eine oder andere Panne hat es auch gegeben.

So entschuldigen sich Bundes- und Reichsbahner im neuen, erstmals gemeinsam vorgelegten Kursbuch dafür, daß die Streckennummern noch nicht aufeinander abgestimmt sind. Die Vorläufigkeit des Werkes wird an Hinweisen deutlich wie „Fahrplan lag bei Drucklegung noch nicht vor“ oder an handschriftlich eingefügten Zusätzen. Schließlich wird mitten in der rund einjährigen Gültigkeitsperiode eine tiefe Lücke im deutschen Schienennetz, die Verbindung Coburg-Sonneberg, wieder geschlossen.

Gerade die herausragendste Innovation im deutschen Eisenbahnwesen, der Hochgeschwindigkeitszug ICE und die beiden Neubaustrecken Hannover-Würzburg und Mannheim-Stuttgart, war Gegenstand der Kritik von Verbraucher- und teilweise auch von Gewerkschaftsseite. Die Bundesbahn mußte höchsten Wert auf sorgfältige Verarbeitung und genaue Zuverlässigkeitsprüfung der neuen Züge legen. Gibt es Pannen auf der ersten ICE-Strecke Hamburg-Frankfurt-Stuttgart-München, so sind zunächst keine Reserven da. Am 2. Juni will die Bahn 25 Züge einsatzbereit haben, die nächsten der 41 aus der ersten Serie kommen erst nach und nach.

Daß ein ausgedehnter „TÜV“ selbst bei der hochgerühmten Präzision der deutschen Industrie nötig ist, erfuhr die Bahn Anfang März: Bei einer Probefahrt verlor eine noch nicht abgenommene ICE-Garnitur auf der Strecke Hannover-Würzburg in voller Fahrt mit Tempo 250 eine Tür, die nicht richtig geschlossen worden war.

Das ICE-Zeitalter wurde diese Woche mit einem großen Festakt mit Bundespräsident Richard von Weizsäcker, Verkehrsminister Günther Krause und Bundesbahnchef Heinz Dürr eröffnet. Die Gäste reisten in einer Sternfahrt mit ICE-Zügen zum völlig neuen Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe an. Markantester Teil des Gebäudes ist der großzügigst überdachte Vorplatz, im Volksmund bereits „Palast der vier Winde“ getauft: Es zieht aus allen Richtungen. In dem Gebäudekomplex fehlte übrigens zunächst eine klassische Einrichtung: das Bahnhofsklo. Nun wird es nachträglich angebaut.

Völlig unklar ist selbst der Bundesbahn, ob das Platzangebot dem Ansturm auf die neuen Züge gerecht wird. Sie riet vor dem Fahrplanwechsel immer wieder dringend zur Platzreservierung, die im ICE im übrigen kostenlos ist.

Die Gewerkschaften hielten sich mit kritischen Bemerkungen zum neuen Fahrplan betont zurück. Eine offizielle Urlaubssperre gebe es zwar nicht, aber „sanfter Druck“ werde auf die Eisenbahner ausgeübt, etwa einen Monat vor und einen Monat nach Fahrplanwechsel keinen Urlaub zu nehmen, meinte ein Sprecher der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands. Die Beamtengewerkschaft GDBA beklagte, daß die Zugbegleiter nur unzureichend über das neue Preissystem informiert worden seien, das nicht mehr nur an der Entfernung, sondern auch an Komfort und Konkurrenzsituation orientiert ist. Immerhin meldet die Bahn stolz die Umschulung von rund 200 Lokführern, 360 Zugbegleitern und 60 Bordtechnikern auf die Superzüge. Außer im neuen Preissystem sollten sich die Zugbegleiter auch in der Bedienung eines Telefax- Geräts auskennen, das im sogenannten Konferenzabteil zur Verfügung stehen soll.

Eisenbahnkunden, die ihre Fahrkarten nicht als Spesen abrechnen können, beklagen, daß die Bahn ihnen vom 2. Juni an nicht die Wahl zwischen IC und ICE läßt. Wer mit der Bahn etwa von Frankfurt nach Stuttgart will, kann sich nur noch den superschnellen und extrateuren ICE oder einen Eilzug aussuchen, der seinem Namen längst keine Ehre mehr macht. Auf dieser Strecke macht der Preisunterschied für die einfache Fahrt 23 Mark in der 1. Klasse und 14 Mark in der 2. Klasse aus.

In vielen Gegenden, durch die der ICE nun rast, holten sich die Fahrplanmacher schon vor der Eisenbahnwende Rüffel: In Frankfurt am Main beispielsweise leidet die stark von Pendlern frequentierte Verbindung mit Fulda unter der absoluten Priorität der weißen Renner. Kunden der Bahn in den Abschnitten Stuttgart-Ulm und Augsburg-München der neuen ICE-Strecke werden sich völlig umgewöhnen müssen, weil hier nach Aussage der Bundesbahn „der Schienenpersonennahverkehr völlig neu geordnet werden“ mußte.

In Köln und um Köln herum dagegen — wo der ICE in den nächsten Jahren nicht fährt — bedeutet der 2. Juni dagegen den Beginn des S-Bahn- Zeitalters. Ein Jahr nach Eröffnung der Stammstrecke und sechs Jahre nach dem ersten Rammschlag verkehren dann täglich rund 350 Züge auf 133 Kilometer S-Bahn-Strecken und 54 Kilometer City-Bahn-Strecken. Sie bedienen unter anderem Verbindungen, denen noch vor wenigen Jahren die Stillegung wegen absoluter Unrentabilität drohte.

Die Deutsche Reichsbahn will dagegen in den fünf neuen Bundesländern rund die Hälfte ihres Schienennetzes stillegen. Von den etwa 14.000 Kilometern, bisher das dichteste Schienennetz in Europa, sollen lediglich 6.500 erhalten bleiben. Nur noch in dieses sogenannte Kernnetz soll künftig investiert und damit der Rest dem endgültigen Verfall preisgegeben oder gleich stillgelegt werden. Im Vergleich zur Deutschen Bundesbahn hat die Reichsbahn in der ehemaligen DDR mehr als dreimal so viele Personen und Güter auf der Schiene befördert. Jetzt wird der westdeutsche Standard mit Bevorzugung des Straßenverkehrs angepeilt.

taz/ap/dpa