: Nervosität in Äthiopien
Mysteriöse Explosionen, ferne Kämpfe und ein unbekannter Staatschef ■ Aus Addis Abeba Bettina Gaus
Der Mann an der Hotelrezeption fragt mich leise: „Haben Sie oder Ihre Kollegen ein Foto von Meles Zenawi? Wir kennen ihn gar nicht.“ Das ist kaum erstaunlich. Noch vor wenigen Wochen galt der erst 36jährige Führer der jetzt siegreichen Rebellenbewegung EPRDF als Staatsfeind Nummer eins. Über Nacht wurde er zum neuen Staatsoberhaupt — vorläufig wenigstens, denn in nur wenigen Wochen soll ja eine neue Übergangsregierung gebildet werden, die aus allen Rebellenbewegungen besteht und bis zu freien Wahlen im Amt bleibt.
Doch wird die EPRDF die Macht tatsächlich freiwillig wieder aufgeben? Meles Zenawi, der am Wochenende aus London nach Addis Abeba zurückkehrte, hat es versprochen. Die Bevölkerung aber scheint dem Frieden nicht recht zu trauen. Und auch die Rebellen von gestern scheinen noch heute Grund zur Nervosität zu haben. Die Universität steht unter verstärkter Bewachung, seit es dort gestern wieder zu blutigen Zusammenstößen gekommen ist, bei denen fünf Menschen starben. Aus der Hararge-Gegend im Osten werden Kämpfe gemeldet — gegen wen, ist unklar, nachdem sich die ehemaligen Regierungstruppen dem Vernehmen nach unter das Kommando der EPRDF gestellt haben. Im Südwesten sollen hunderttausende sudanesische Flüchtlinge die Lager in panischer Hast verlassen haben, nachdem Rebellen aus dem Südsudan offenbar die Vorräte geplündert haben.
In Addis Abeba sieht es jetzt so aus, als seien weit mehr Menschen gestorben als ursprünglich angenommen — durch ein einziges, vernichtendes Ereignis. Ein Munitionsdepot etwa sieben Kilometer westlich der Innenstadt war am Dienstag in die Luft geflogen. Auf 300 wurde die Zahl der Opfer zunächst geschätzt, jetzt heißt es, die Explosion habe mehr als 1.000 Menschenleben gekostet. Am Ort des Grauens selbst ist schwer verständlich, wie überhaupt irgendjemand verläßliche Schätzungen abgeben kann. Leichen liegen zwischen Trümmern, vollständig verkohlt, im späten Stadium der Verwesung, kaum noch als menschliche Körper zu erkennen. Dennoch suchen hier viele, vor allem Frauen, nach vermißten Angehörigen. Ein unbeschreiblich schwüler, süßlicher Gestank liegt in der Luft — und eine bleierne Stille. Kaum jemand spricht, eine Frau weint leise, alle haben Tücher vor Mund und Nase gepreßt. Nur ganz von ferne aus dem Hintergrund ertönen kirchliche Gesänge — es ist Sonntag, Gottesdienstzeit.
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