Brandenburgs Verfassung betritt neue Wege

Das neue Bundesland diskutiert einen Verfassungsentwurf, der in weiten Bereichen über die traditionellen Länderverfassungen der Alt-Bundesländer hinausgeht/ Elemente des Runden Tischs finden sich dort wieder  ■ Aus Potsdam Christian Semler

Das aus den Trümmern der DDR wiederauferstandene Land Brandenburg schickt sich an, zum Avantgardisten demokratischer Umgestaltung unter den fünf neuen Ländern zu werden. Den Abgeordneten des Landtags liegt der Entwurf einer Verfassung vor, die für sich in Anspruch nimmt, an die demokratischen Traditionen der totgeborenen Runden-Tisch-Verfassung der DDR von 1990 ebenso anzuknüpfen wie an avancierte Inhalte der neuen Verfassung Schleswig-Holsteins. Im Kern geht es um den verfassungsmäßigen Rang unabhängiger Bürgerbewegungen und -initiativen und um eine Konzeption der Grundrechte, die die Kluft zwischen Anspruch und Verfassungswirklichkeit zu vermindern sucht.

Nachdem die Verfassungsdebatte Anfang 1990 in der Noch-DDR für kurze Zeit aufgeblüht war und auch in den entstehenden Bundesländern wie Sachsen und Thüringen erste Verfassungsentwürfe und Gegenentwürfe entstanden waren, ist es jetzt still geworden um die verschiedenen Gründerväter und -mütter. Gibt es tatsächlich einen „Beruf der Zeit“ zur Verfassungsgesetzgebung? 1990 hatten Juristen wie Ulli Preuß emphatisch eine deutsche Verfassungsdiskussion gefordert, ja von ihr das demokratische Gelingen des Einheitsprozesses abhängig gemacht. In der Arbeit des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder fand dieses Engagement seinen politischen Ausdruck. Die heute geringe Popularität solcher Anstrengungen könnte man ebenso aufs Konto des täglichen Überlebenskampfs in der Ex-DDR buchen wie auf das überwältigende Vorbild der BRD-Verhältnisse in allem und jedem. Die Verfassungsdiskussion war abgehoben von der sozialen Wirklichkeit, sie zehrte von einer DDR-Identität des revolutionären Umbruchs, die schnell verging. Ein möglicher Ausweg aus dieser Sackgasse bestand darin, die Ideen des Jahres 1989 „von unten nach oben“, das heißt in den Kommunal- oder Länderverfassungen so einzubringen, daß ihr praktischer Nutzen den Bürgern sinnfällig werde.

In Brandenburg wird jetzt versucht, Ernst zu machen mit der in der Ex-DDR versprochenen, aber nie verwirklichten öffentlichen Beratung grundlegender Gesetzesvorhaben. Der Entwurf wurde von einem Verfassungsausschuß, der je zur Hälfte aus Abgeordneten und aus von den Parteien bestellten Experten beziehungsweise Vertretern der wichtigsten Interessengruppen besteht, ausgearbeitet. Er soll bis zum 15.September der öffentlichen Diskussion unterbreitet werden, danach soll der Ausschuß die Ergebnisse synthetisieren, das Parlament dann mit Zweidrittelmehrheit das Verfassungsprojekt beschließen. Anschließend — im Frühjahr 1992 — wird ein Verfassungsreferendum stattfinden.

Im Ausschuß mit von der Partie waren westliche Juristen wie der Ex- Verfassungsrichter Simon oder Rechtsanwalt Merkel (für das Bündnis 90), ohne daß von einer Vormundschaft der zugereisten Wessi- Experten über die Brandenburger hätte gesprochen werden können. Es gelang, für den Entwurf einen Allparteienkonsens zu finden: Auch die CDU stimmte zu.

Bei der Aufnahme der Grundrechte in die Verfassung ist vom Ausschuß — nach der „Runden-Tisch- Verfassung“ ein weiteres Stück Neuland erschlossen worden. Vom Runden Tisch stammt der ebenso schöne wie rätselhafte Satz „Jeder schuldet jedem die Anerkennung als Gleicher“, der von Rosa Luxemburg stammen soll, aber von den Exegeten nicht lokalisiert werden konnte. Er öffnet das Tor zur „Drittwirkung der Grundrechte“, also ihrer Geltung im Verhältnis der Bürger zueinander. Wird damit künftig im Lande Brandenburg ein Gastwirt seine Konzession verlieren, wenn er ein Schild mit der Aufschrift „Ausländer unerwünscht“ an der Tür anbringt? Wohl kaum. Man wird sich weiter mit der Gewerbeordnung behelfen müsssen. Der brandenburgische Verfassungsgeber hat versucht, aus den Grundrechten bestimmte Förderungsaufgaben und Förderungspflichten abzuleiten. Erst auf dieser letzten, konkreten Ebene können subjektive, einklagbare Rechte wahrgenommen werden. Und hier ergibt sich sofort das Problem entgegenstehenden Bundesrechts. Wenn etwa im Entwurf nichteheliche Lebensgemeinschaften gleichgestellt werden, so kann damit weder das Erb- noch das Sorgerecht, erst recht nicht das Zeugnisverweigerungsrecht modifiziert werden. Die Aufforderung des Entwurfs an die Exekutive, auch nach Erlöschen der Übergangsregelung dafür einzutreten, daß der Paragraph 218 auf brandenburgischem Territorium nicht angewandt wird, ist nur der Extremfall solcher Propagandaarbeit. Wichtig und zukunftsweisend ist im Entwurf die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen. Die Aktionsmöglichkeiten des Landes sind zwar auch hier dadurch begrenzt, daß das Haftungsrecht Bundesrecht ist. Aber dadurch, daß jedermann/frau die Möglichkeit zur Klage eröffnet wird, hat das Land der „subjektlosen“ Natur jede Menge Verteidiger geschaffen.

Ein zweiter Pfeiler des Entwurfs sind die „politischen Gestaltungsrechte“. Er folgt einer Vision, nach der von der „civil society“, das heißt dem Kunterbunt der sich zwischen den einzelnen und den hierarchisierten Parteistaat schiebenden Bürgergruppen und Initiativen, die belebenden Impulse für die Gesellschaft ausgehen. Neben den Parteien sind deshalb politische Vereinigungen und Listenverbindungen zur Teilnahme an den Wahlen berechtigt, die Sperrklausel soll drei Prozent nicht überschreiten, nach einem Minderheitenvotum des Ausschusses soll sie ganz wegfallen. Allen, die ein berechtigtes Interesse geltend machen können, ist Akteneinsicht zu gewähren, was die Praxis der Geheimhaltung von Gutachten künftig unmöglich machen soll. Die Verfassung statuiert generell — auch dies eine Novität — die Pflicht zur Verfahrensbeteiligung der Bürger im Planungsprozeß. Übereinstimmend mit den meisten Länderverfassungen der Alt-Bundesländer werden als Elemente direkter Demokratie Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheid eingeführt. Neu sind die relativ niedrig angesetzten Quoten und die Bestimmung, daß ein Volksentscheid wirksam werden soll, wenn sich ein Viertel aller Wahlberechtigten für ihn ausspricht.

Der Entwurf verzichtet darauf, Grundlagen einer demokratischen Gemeindeverfassung zu benennen. Nach der Auskunft von Rechtsanwalt Merkel wollte man der Selbstbestimmung der Kommunen keine Fessel anlegen. Die jetzige Lösung birgt aber die Gefahr, daß eine technokratisch durchgezogene Gebiets- und Gemeindereform die „basisdemokratischen“ Absichten der Verfassung unterminiert. War der Verfassungsausschuß hier säumig, so hat er mit der Idee einer zweiten Kammer des Parlaments zuviel des Guten getan. In der SPD-Version soll das eine Kommunenkammer sein, in der Version der Grünen ein ökologischer Senat. Ist der Zweck des ersten Projekts nicht recht erkennbar, so muß beim zweiten die geplanten Zusammensetzung — Dreiviertel der Mitglieder aus wissenschaftlichen Institutionen, Initiativen und Verbänden — Mißtrauen gegenüber einer Expertokratie im Verfassungsrang auf den Plan rufen.

Alles in allem zeugt der Entwurf von zwei raren Eigenschaften in den fünf neuen Ländern: Selbstbewußtsein und Initiative.