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Buchenwald wird „neu positioniert“

In der Wallfahrtsstätte des offiziellen DDR-Antifaschismus soll die Geschichte neu geschrieben und das sowjetische Internierungslager nach 1945 berücksichtigt werden. Bei dem Streit um die Zukunft der Gedenkstätte Buchenwald straucheln die Weimarer BürgerInnen aber über ihre Vergangenheit der letzten 40 Jahre.  ■ VONVERAGASEROW

inmal Buchenwald, bitte“ — Am Weimarer Hauptbahnhof steigt man in die Linie 31. Die Busfahrt dauert gerade 15 Minuten. Das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald gehört so selbstverständlich zum öffentlichen Nahverkehrsnetz der Stadt Weimar wie die Haltestelle Goetheplatz. „Post Weimar“ fügten die Nazis 1937 dem zynisch-romantischen Namen für das KZ hinzu. Buchenwald und Weimar — das läßt sich schwer voneinander trennen. Deshalb sitzen hier an einem Montag abend Ende Mai auch gut 100 Weimarer Bürger im historischen Sitzungssaal des Rathauses zusammen. Der außerparlamentarische Untersuchungsausschuß zur Aufklärung von Korruption und Amtsmißbrauch hat zu einer öffentlichen „Bürgeraussprache“ geladen. Einziger Tagesordnungspunkt: die personelle Situation in der „Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald“ auf dem nahen Ettersberg. Die Bürger Weimars sind gekommen, so wird an diesem Abend mit gewichtigen Worten betont, „weil sie für die Geschichte des Lagers eine moralische Verantwortung tragen“.

Daß sie die tragen, war in der Vergangenheit nicht selbstverständlich. Von dem, was in dem Konzentrationslager der Nazis geschah, wollten die Weimarer einst nichts gewußt haben, obwohl Tausende von Gefangenen und Deportierten durch die Straßen der Goethe-Stadt den Berg hochgeprügelt wurden, und der Geruch des Krematoriumsrauchs über die Thüringer Ebene zog. Auch nach 1945 trugen sie keine Verantwortung. Die nahm ihnen die DDR-Geschichtsschreibung ab, die die Bürger des eigenen Landes zu den „besseren“, weil antifaschistischen Deutschen ernannte. Aber nun, gut eineinhalb Jahre nach der Wende, kann und will man offen reden, vieles um- und überdenken, und das ist gut so. Die Stadt Weimar steht vor einer neuen, selbstgewählten Aufgabe: „Sie will sich“, wie es im besten DDR-Deutsch aus dem Büro der Stadtverordnetenversammlung heißt, „zu Buchenwald neu positionieren.“

Gefragt sind die „absolut lautersten Menschen“

Doch diese „Neupositionierung“ ist ein schwieriger Prozeß. Und er hat in Weimar mehr mit der Bewältigung der eigenen, jüngsten Vergangenheit zu tun hat als mit dem Konzentrationslager Buchenwald. Seit Monaten schwelt die Auseinandersetzung in den Spalten der Lokalpresse — jetzt, bei der öffentlichen Bürgeraussprache im Rathaus, soll endlich Klartext geredet werden. Klartext über den offenkundigsten Streitpunkt: die personelle Besetzung der „Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald“. „Die alte Mannschaft muß weg“, hat der achtköpfige außerparlamentarische Untersuchungsausschuß entschieden. Insgesamt sieben MitarbeiterInnen hat der Ausschuß dem thüringischen Kultusministerium namentlich benannt, die aus ihren Funktionen entlassen werden müßten. Die haben, so formuliert es Ausschußvorsitzender Georg Ghiletiuc, „die Geschichte verbogen und das verträgt sich rein moralisch nicht mit der Arbeit dort oben in Buchenwald“. „Äußerste moralische und politische Integrität“ sei gefragt. Nur „die absolut lautersten Menschen“, so fordert ein anderes Ausschußmitglied zu Beginn der „Bürgeraussprache“, dürften bleiben.

Die politisch „absolut Lautersten“ — sie sitzen sicher nicht in der Mahn- und Gedenkstätte auf dem Ettersberg. Wer hier zumindest an einflußreicher Stelle gearbeitet hat, kann mit Fug und Recht als strammer Parteigänger der SED bezeichnet werden. Zu wichtig, zu notwendig war gerade die Gedenkstätte auf dem Ettersberg für das Ideologiegebäude der DDR. Buchenwald, das Konzentrationslager, in dem die kommunistischen Parteien verschiedener europäischer Länder eine funktionierende illegale Lagerorganisation und bewaffnete Widerstandsgruppen aufgebaut hatten, war der „rote Olymp“, die Wallfahrtsstätte des Antifaschismus, der heilige Gral der Geschichte des Widerstands vor allem der KPD. Der legendäre Schwur der Überlebenden von Buchenwald, ihre Verpflichtung zur „Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln“ und „zum Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit“ war eines der ideologischen Fundamente für das „bessere Deutschland“ made in DDR. Massenaufmärsche und Fahnenweihe, Klassenfahrten und FDJ-Spektakel — die Toten von Buchenwald wurden auf vielfache Weise vereinnahmt. Und die Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald hat mit etlichen Geschichtsklitterungen und Heroisierungen dazu beigetragen. „Solange die alten Seilschaften noch da sitzen“ steigert sich an diesem Abend bei der „Bürgeraussprache“ eine Weimarer Lehrerin in die Erregung hinein, werde sie jedenfalls empfehlen „keinen Schüler mehr da hochzulassen auf den Ettersberg!“. „Kindern, Eltern und Lehrern ist geistige Gewalt angetan worden!“ setzt ein anderer Pädagoge noch eins drauf. Einen Tag später, als keine Öffentlichkeit zuhört, nennt die stellvertretende Leiterin der Gedenkstätte, Dr. Irmgard Seidel, das die zweite Verdrängung der Weimarer. Vor der Wende seien sie alle gekommen, die Lehrer, mit ihren Schulklassen, hatten die Arbeit der Gedenkstätte in Gutachten gelobt und waren in Scharen zum Einweihungszeremoniell des neuen Buchenwald-Museums auf dem Ettersberg erschienen.

Aber gegen die, die so etwas sagt, richtet sich gerade der Zorn der versammelten Weimarer Bürger. Sicher, Dr. Irmgard Seidel ist eine Frau der alten Garde, die nicht verhehlt, daß sie aus Überzeugung gehandelt hat. Nun ist sie — bis das Thüringer Kultusministerium entscheidet — immerhin noch Vize-Chefin der Mahn- und Gedenkstätte, und das soll sie nicht bleiben. Eine „unglaublich skandalöse“ Doktorarbeit habe Dr. Seidel einst geschrieben, führt der außerordentliche Untersuchungsausschuß an. „Wenn wir jetzt alle DDR-Doktorarbeiten heranziehen, dann sieht es hier aber für einige ganz böse aus!“ meldet sich ein Mitglied des Bundes der Antifaschisten zur Verteidigung der Leiterin zu Wort, und der eigens angereiste Staatssekretär vom Kultusministerium in Eisenach spricht, als ob es hier um ein Gerichtsverfahren ginge, unbeholfen bürokratisch von „rechtsstaatlichen Verfahren“ und „Unschuldsvermutung“, die auch für die jetzigen Mitarbeiter der Gedenkstätte zu gelten hätte. Doch die Mehrheit der Versammelten fordert einen „sauberen Schnitt“, und die heimliche moralische Autorität an diesem Abend, der Pfarrer Kranz vom Neuen Forum, schickt eine Drohung in Richtung Kultusministerium hinterher: Wenn in Buchenwald keine personellen Konsequenzen gezogen würden, dann stünde in Weimar „eine zweite kleine Revolution“ bevor.

Doch was an diesem Abend als hitzige Personaldebatte geführt wird, birgt in Wahrheit einen viel gravierenderen und komplizierteren Konflikt, mit dem sich derzeit auch die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Sachsenhausen auseinandersetzen muß. Der eigentliche Grund für die Emotionsgeladenheit ist die Frage: Wie und in welcher Form soll in den Gedenkstätten die Tatsache gewürdigt werden, daß ostdeutsche Konzentrationslager wie auch Buchenwald kurz nach ihrer Befreiung als sowjetische Internierungslager dienten. Hinter deren Zäunen verschwanden neben Tausenden von Naziverbrechern auch zahllose Unschuldige. Etwa die Hälfte dieser Inhaftierten starb an Unterernährung und Krankheit. Im Internierungslager Buchenwald waren in den fünf Jahren seiner Existenz über 30.000 Menschen inhaftiert, Personen, die aufgrund einer Direktive des Alliierten Kontrollrates von 1946 als Nazi-Funktionsträger oder als den vier Besatzungsmächten „möglicherweise gefährlichen Deutschen“ ins Lager gesperrt wurden. Aber zunehmend wurden unter der sowjetischen Besatzungsmacht auch Menschen in Buchenwald eingesperrt, die dem Geheimdienst NKWD politisch nicht opportun erschienen, die als amerikanische Agenten denunziert, als „Klassenfeinde“ abqualifiziert oder von der Straße weg verhaftet wurden, weil den Besatzern noch einige Häftlinge für das festgelegte Quantum an Festnahmen fehlte. Auch Häftlinge des einstigen Konzentrationslagers, wie der Sozialdemokrat Robert Zeiler, fanden sich nach 1945 hinter den Zäunen von Buchenwald wieder.

Verschüttete Geschichte und bequeme Selbstgerechtigkeit

40 Jahre lang waren diese Speziallager der Sowjets absolutes Tabu in der DDR. In Buchenwald wurde dieser Teil der Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes verschüttet: Als vor acht Jahren Bauarbeiter unweit des Lagergeländes auf die deutlichen Spuren von Massengräbern stießen, kam die Order: zudecken und schweigen.

Daß die Opfer dieses Lagers jahrzehntelang nicht reden durften, dieses Kapitel der eigenen Geschichte erst nach der Wende öffentlich diskutiert werden durfte, erklärt vielleicht, daß die Weimarer BürgerInnen und Politiker es bei der Aussprache im Rathaus um Nuancen zu schrill, zu selbstgerecht in die Debatte bringen. Daß sie das sowjetische Internierungslager und seine Opfer verschwiegen haben, obwohl sie von den Leichenfunden wußten, werfen die Versammelten den MitarbeiterInnen der Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald vor. Doch im selben Atemzug betonen sie, daß sie selber ja nicht hätten drüber reden dürfen. Bis heute, bis heute! Trauten sich ehemalige Inhaftierte nicht, ihre Erfahrungen zu beschreiben, wird als Beleg dafür die berechtigte Angst vor Repressalien angeführt. Doch Frau Dr. Seidel, sie hätte es offen aussprechen müssen, verlangen einige Redner im Saal. Als Irmgard Seidel zu ihrer Verteidigung den Ball zurückwirft: „Was haben denn die Weimarer Bürger getan, seit das Lager 1985 öffentlich bekannt wurde? Wo war denn ihre Opposition?“ zischelt es vor Empörung im Saal. Und immer schwingt noch ein anderer Unterton durch den Raum, und der läßt hellhörig werden: Niemand will die Verbrechen der Nazis in Buchenwald mit dem Unrecht in dem sowjetischen Lager vermischen oder gar gleichsetzen. Das betonen sämtliche Redner dieses Abends. Doch schon die Wortwahl der dann folgenden Sätze hat einen anderen Zungenschlag: Da spricht der stellvertretende Präsident der Weimarer Stadtverordnetenversammlung, Dr. Haufe, in einem Atemzug „von der moralischen und politischen Verantwortung für die Opfer der beiden Lager von Buchenwald“, da will die Weimarer CDU Buchenwald zu einer „Gedenkstätte aller Opfer menschlicher Diktaturen“ machen, da klagt die Weimarer SPD „historische Wahrhaftigkeit“ ein, und erklärt, das Ansehen (!) von Buchenwald könne nur dadurch bewahrt werden, „wenn beide Seiten der historischen Stätte, das Nazi-KZ wie seine Fortführung nach 1945 als sowjetisches Straflager glaubhaft Darstellung finden“. „Beide Seiten sehen“, „die Einseitigkeit endlich aufgeben“, diese Forderungen fallen immer wieder. Nur was sind die zwei Seiten der Nazi-Verbrechen? Was die beiden Seiten zweier unterschiedlicher Medaillen? Niemand an diesem Abend versucht, zwischen den unschuldigen Opfern eines stalinistischen Straflagers und den internierten Nazi-Verbrechern zu differenzieren, die es auch in den früheren Konzentrationslagern in der westlichen Besatzungszone gegeben hat. Einen Tag später urteilt Vize-Direktorin Seidel, was ihr an diesem Abend zischende Proteste eingebracht hätte: „Hier findet wieder eine Verdrängung von Schuld statt. Die Geschichte fängt doch 1933 an, nicht erst 1945. Die Sowjets sind ja nicht als Touristen von der Wolga nach Weimar gekommen, sondern weil Deutschland einen unvorstellbar brutalen Krieg begonnen hatte.“ Das solle sich gerade die Bevölkerung des einstigen Mustergaus Weimar vor Augen führen. Sicher, das sei keine Rechtfertigung für die Verbrechen der Sowjets an Unschuldigen, räumt Irmgard Seidel ein und spricht von „eigenem Umdenken“, „Lernen“, und „Aufarbeiten“, aber auch von persönlicher Depression angesichts der jetzt neu zu erforschenden, drückenden Fakten.

Wie zur Rechtfertigung für das Umdenken hat sie eine zweiseitige Liste von Aktivitäten zusammengestellt, die die Gedenkstätte seit 1988 unternommen hat, um die Geschichte des sowjetischen Internierungslagers zu erforschen. Zahlreiche Meldungen an den Bezirksstaatsanwalt finden sich darunter, Briefe ans Außenministerium mit der Bitte, in Moskau um Akten vorstellig zu werden, und Forderungen nach Unterstützung bei der Erforschung der Massengräber. Inzwischen hat das Museum der Gedenkstätte Buchenwald einen eigenen Raum mit einigen, bisher sehr dürftigen Ausstellungsstücken über das sowjetische Internierungslager eingerichtet. Ein gewundenes Faltblatt wurde dazu geschrieben und außerhalb des Lagers am Gräberfeld ein Gedenkstein aufgestellt. Doch diese Aktivitäten erscheinen den anwesenden BürgerInnen im Rathaus als unglaubwürdige „Wendemanöver“. „Dafür“, so deklamiert der Weimarer Stadtverordnete der CDU-Fraktion, Dr. Haufe, unter lautem Beifall, „sind wir im Herbst 89 nicht auf die Straße gegangen. Wir, die wir hier 40 Jahre gelebt und gelitten [!!! — die k.in] haben, können es nicht ertragen, daß diejenigen, die über die sowjetischen Straflager geschwiegen haben, jetzt das Gegenteil vertreten!“

Doch auch andere wollen nicht ertragen, was derzeit in Buchenwald/ Post Weimar passiert. Die Diskussion um die zukünftige Gestaltung der Konzentrationslager- Gedenkstätten im geeinten Deutschland hat vor allem im Ausland für Wirbel und Besorgnis gesorgt. Die Komitees und Verbände der ehemaligen politischen Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald haben schon im vergangenen Oktober gegen eine befürchtete Veränderung des Charakters von Buchenwald protestiert. Im März haben sie sich in einer Erklärung öffentlich hinter die stellvertretende Direktorin Dr. Seidel gestellt, in deren Absetzung sie auch ein Signal zu inhalticher Veränderung sehen. „Unsere Anteilnahme“, so schreibt der Präsident des Internationalen Buchenwald-Komitees, Dr. Pierre Durand, im Namen von drei weiteren Verbänden ehemaliger KZ-Häftlinge, „gehört allen, die damals (im sowjetischen Internierungslager) unschuldig interniert wurden, und wir begrüßen die Bestrebungen, diesen Geschichtsabschnitt tabufrei und detailliert aufzuarbeiten. Wir verwahren uns aber dagegen, daß die Bedeutung und der Charakter der Mahn- und Gedenkstätten geschmälert oder gar verdeckt wird durch die Gleichsetzung der Vorbereitung und Durchführung des Hitlerkrieges mit den Folgen, die er heraufbeschwor.“ Als Reaktion auf die Diskussionen in der Bundesrepublik wollen die Verbände der ehemaligen KZ-Häftlinge die Gedenkstätten unter Unesco-Oberhoheit stellen lassen. Diese Orte dürften nicht der Willkür eines Landes unterliegen, und schon gar nicht der Willkür der Deutschen.

Auch nicht der der Weimarer. Damit müssen sich die BewohnerInnen der Goethe-Stadt wohl abfinden, die im Rathaus so vehement ihre Verantwortung für Buchenwald bekunden. Diese Verantwortung stellten die Weimarer Stadtoberen im April dieses Jahres auf ihre Weise unter Beweis: Als wie jedes Jahr ehemalige Häftlinge des KZs aus verschiedenen Teilen Europas der Befreiung Buchenwalds gedachten, blieben die Stühle der geladenen offiziellen Vertreter Stadt erstmals in der Geschichte leer.

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