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Seltsame Liebschaften

Eine Reise von Piterburch über Petrograd nach Leninburg laut dem 1992er Programm von Intourist/ Parteibonzen und Wertkonservative in der Abwehrschlacht vereint  ■ Aus Moskau K.-H. Donath

Via die New Yorker Dependance der sowjetischen Nachrichtenagentur 'tass‘ erreichte die Leser der konservativen Zeitungen in der UdSSR in Windeseile die Mitteilung eines Mannes aus Kanada, dessen Überzeugungen gerade die Meinungsmacher in den Redaktionsstuben der 'Prawda‘ und 'Sowjetskaja Rossija‘ bisher nicht sonderlich schätzten. Die Rede ist von Alexander Solschenizyn. Ihm sei zu Ohren gekommen, schrieb er, es liefen Vorbereitungen, Leningrad wieder den alten Namen „Sankt Peterburg“ zu geben. Eine Kurzlektion in russischer Geschichte folgte. „Der russischen Sprache und dem russischen Bewußtsein zuwider“ hätte die Stadt diesen Namen im 18. Jahrhundert erhalten. Wenn überhaupt eine Umbenennung, dann nur in Swiato-Petrograd, die russische Übersetzung für Sankt Petersburg. Allerdings, glaubt der berühmteste russische Dissident, dürften die Bürger der Stadt nicht allein darüber entscheiden, ob sie weiterhin Leningrader bleiben wollen. Das sei eine Angelegenheit „ganz Rußlands“. Ähnlich sieht es auch der Oberste Sowjet Aserbaidschans im 4.000 Kilometer entfernten Baku, der die humanistischen Ideale des Staatsgründers gerade an seiner Grenze zu Armenien exekutiert. Solschenizyn, der von einer nationalen Wiedererweckung Rußlands träumt, treiben andere Motive um als die Parteinomenklatura. Aber die Alliance ist erst einmal hergestellt. Sie läßt sich ausbeuten. Seit Tagen tobt in den Zeitungen die Verteidigungsschlacht um Leningrad. Am 12. Juni sollen die Bürger parallel zu den Wahlen des russischen Präsidenten und des Bürgermeisters der Stadt auch über den zukünftigen Namen entscheiden. Die 'Prawda‘-Leserbriefe in der flugs eingerichteten Rubrik „Laßt uns Leningrad verteidigen“ kommen aus allen Himmelsrichtungen — nur nicht aus der Stadt an der Newa. Umbenennungen gehören mittlerweile zur Tagesordnung. Häufig waren sie sogar das einzige, was die neuen radikaldemokratischen Sowjets seit ihrer Amtsübernahme zustande gebracht haben. Symbolische Politik, ganz im herkömmlichen Stil. Danach erlahmte ihre Initiative, aber auch die Gegenwehr. Im Falle Leningrads liegen die Dinge anders. Die Vereinigung „Bewohner des blockierten Leningrad“ befürchtet, mit der Umbenennung würde auch das Gedenken an die Hunderttausenden Opfer der deutschen Hungerblockade im 2. Weltkrieg verlorengehen. Ihr Widerwillen gegen ein deutsches „Sankt Peterburg“ — auch wenn es durch den Verlust des Genetiv auf seine „deutsche Korrektheit“ von Anfang an verzichten mußte — ist verständlich. Die Kommunisten mobilisieren aus anderen Gründen. „Was die Deutschen nicht geschafft haben, erledigen jetzt die sogenannten Demokraten“, tönt es aus ihrem Umfeld häufig. Nur konsequent werden politische Gegner im Handumdrehen zu Faschisten. So suggerieren sie einen Kampf auf Leben und Tod. Ein Schleifen der revolutionären Feste wäre der vorweggenommene semantische Schlußakkord ihres unaufhaltsamen Machtverlustes. Die tatarische KP brachte es auf den Punkt: Die Kampagne sei politischer Natur und verfolge nur ein Ziel: die revolutionäre Vergangenheit der Stadt und die Rolle Lenins als Gründer des sowjetischen Vielvölkerstaates auszuradieren. In Leningrad ist indes das Ende der kommunistischen Herrschaft schon hereingebrochen. Der radikale Bürgermeister Anatolij Sobtschak, eine der wenigen überzeugenden Figuren der Opposition, braucht sich um seine Wiederwahl keine Sorgen zu machen. Eine Freihandelszone will er in der Region Leningrad errichten. Die Chancen stehen nicht schlecht. Denn Boris Jelzin, zur Zeit noch Nurpräsident des Obersten Sowjet Rußlands, hat am Parlament vorbei sein Placet schon gegeben. Jetzt ist der russische Ministerrat gefordert. Binnen vier Wochen soll er ein Konzept vorlegen. Ein Journalist höhnt: „Schon jetzt bereitet sich die Stadt auf den Empfang der liebsten Gäste, der Dollars, vor. Sie werden in den neuen Valuta-Shops würdig empfangen werden.“ Offensichtlich sind dem Autor die leeren Rubel-Regale lieber. Weiter giftet der konservative Schreiber: „Der Vorsitzende des Lensowjets (Stadtparlament) Sobtschak sieht sich schon als Bürgermeister von Sankt Peterburg. Ich weiß nicht, ob er gerade Deutsch lernt, aber die Zone, ,wo alle Fahnen zu Gast sein werden...‘ bereitet er unverdrossen vor.“ Das Zitat ist dem Gedichtzyklus Der eherne Reiter entliehen, einem Werk des berühmtesten Sohnes der Stadt, Alexander Puschkin. Auch Puschkin verteidigte damals seine Stadt, doch in eine andere Richtung. Obwohl im hohen Norden gelegen, schied sich seit ihrer Gründung der russische Geist über der neuen Residenz. Als Symbol der Westöffnung war sie schon Anfang des 18. Jahrhunderts unter Peter dem Großen dem russischen Adel ein Dorn im Auge. Die Ministerialbürokratie weigerte sich beharrlich, das kommode Moskau mit dem mückengeplagten Pionierlager mitten in den Newa-Sümpfen zu tauschen. Wieder einmal geht es um die Öffnung nach Westen. Aus dem fernen Sibirien meldete sich indes eine Redaktion mit einem Kompromißvorschlag: Leninburg. Die Sibiriaken haben gut lachen. Sie kratzt es nicht. Egal was am 12. Juni auch passiert, die Sonne wird in „Sankt Lenin“ nicht untergehen. Die Zeit der Weißen Nächte ist angebrochen. Und wie jedes Jahr werden sich die Bewohner wieder unaufhörlich kratzen. Denn die Mücken sind Schmarotzer, sie sind geblieben und wollen nur Blut sehen, egal auf welchen Namen die Stadtbürger künftig hören werden.

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