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„Der Mensch war zuallererst Nomade“

■ Eine Textcollage mit Auszügen aus der neuen Nummer von 'World Media‘: „Die neue Völkerwanderung“/ Schriftsteller, Politiker und Flüchtlinge aus Mexiko, Albanien, der Sowjetunion, Deutschland, Südafrika und Marokko über Migrationen

Ich erinnere mich noch an meinen ersten Tag in einer nordamerikanischen Schule. Wie dort üblich, gab es Mittagessen. Ich verlangte einen Löffel, und ich verlangte ihn auf spanisch, weil es die einzige Sprache war, die ich beherrschte. Man kann sich nicht vorstellen, in welches Gelächter die anderen Kinder ausbrachen. Beim Ausgang, in einem jener trostlosen Hinterhöfe der nordamerikanischen Grundschulen, lauerten sie mir auf, und ich mußte meine erste Schlägerei bestehen. Unter dem Schrei „Spoon, spoon!“ versetzten sie mir ein paar fürchterliche Ohrfeigen. Drei Jahre später kehrte ich nach Mexiko zurück, ging zur Schule, und wurde wieder mißhandelt, weil ich schon wieder ein verfluchter Ausländer war, diesmal ein Gringo.

Der Mensch war zuallererst Nomade. Er wurde erst sehr spät, vor kaum vier- oder fünftausend Jahren, mit der Entwicklung der Landwirtschaft seßhaft. Dies hat wie kräftige Winde die Oberfläche der Erde verändert, aber auch wie tiefe Meeresströmungen die Wasserschichten durcheinandergewirbelt. Meiner Ansicht nach sind die großen Veränderungen der Geschichte nicht nur ökonomischer, wissenschaftlicher, ideologischer oder religiöser Art; am wichtigsten ist und bleibt die Demographie, die großen Völkerwanderungen. Octavio Paz

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Die Migration nimmt einen großen Platz in den schönsten Zeugnissen der menschlichen Kultur ein. Homers Verse in der Ilias und in der Odyssee sind im Grunde nur Chroniken von zwei Migrationsbewegungen. Die erste beschreibt eine körperliche und von Gewalt geprägte Völkerwanderung nach Osten (Ilias) und die zweite eine individuelle, subtile und eher geistige Bewegung in Richtung Okzident (Odyssee). Um das Problem genauer einzukreisen, könnten wir unser Augenmerk auf das Territorium, in dem sich die antiken Tragödien abgespielt haben, und auf die entsprechenden Völker richten, die sich seit dem antiken Illyrien oder Griechenland herausgebildet haben, nämlich die Albaner und die Griechen. Ihre in jüngerer Zeit entstandenen Balladen, über die Emigration aus wirtschaftlichen Gründen, sind, auch wenn sie alltägliche Probleme behandeln, ebenso tragisch wie die antiken Mythen.

In einer albanischen Ballade vom Ende des 19. Jahrhunderts wird ein albanischer Wirtschaftsemigrant (hier findet sich bereits dieser uns heute so vertraute Begriff) in die Gestalt und das Schicksal von König Ödipus gekleidet, obwohl er gerade aus New York zurückkehrt. Immer das gleiche Schema: Vater, Mutter und Sohn. Das Motiv ist die Eifersucht gegenüber der Mutter. Nur tötet diesmal nicht der Sohn den Vater, sondern der Vater bringt den Sohn um. Der Wirtschaftsemigrant, der nach zwanzig Jahren zurückkehrt, hält seinen Sohn für den Liebhaber seiner Frau und tötet ihn. Aber auch wenn das Drama in die moderne Zeit übertragen worden ist, bleibt es ebenso ernst wie in der Antike. Die Szenen, die sich im Hafen von Durres im Frühjahr 1991 abspielten, als die albanischen Flüchtlinge die Schiffe stürmten, um nach Italien zu fliehen, machen das ihnen innewohnende Drama deutlich — und lassen einen erschauern. Ismail Kadaré

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Im Mai letzten Jahres herrschte in Moskau eine ziemliche Aufregung unter den Juden. Die Organisation „Pamjat“ hatte für den 5. Mai eine Racheaktion angekündigt, sie sammelten Adressenlisten und bedrohten viele mit anonymen Briefen. Es war daher ein großes Glück, daß ich ausgerechnet in diesen Tagen von den Moskauer Behörden die Erlaubnis erhielt, gemeinsam mit Ljuba meine Schwester in Ostberlin zu besuchen. Sie ist hier seit vielen Jahren mit einem Deutschen verheiratet.

Es gibt Zufälle im Leben, und die entscheidende Wende in meinem Leben basierte auf so einem Zufall. In einer Berliner Straßenbahn fragte mich ein Deutscher auf russisch, ob ich Russin sei. Ich sagte, nein, ich sei Jüdin. Da war er sehr überrascht, denn dieser Deutsche war in Begleitung eines Rabbiners aus Israel. Und der erzählte mir, daß seit Mitte April schon über 200 Juden aus der Sowjetunion nach Ostberlin geflüchtet waren. Erst da reifte in mir die Idee, in Deutschland zu bleiben. Ich war ja wirklich nur mit einem Koffer nach Berlin gekommen. Jelena Stein

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Die Ost-West-Migrationen sind eine unvermeidliche Folge des Falls der Mauer, den auch ich so nicht vorhergesehen habe. Abschotten hilft auf Dauer nicht, genausowenig wie im Fall der nordafrikanischen Einwanderung aus dem Süden. Sondern man muß sich auf diese neue Situation einstellen und zwei Dinge zustande bringen: einmal mithelfen, daß die Verhältnisse dort sich so verändern, daß der Drang wegzugehen, verringert wird. Das muß für Polen, Ungarn und die CSFR bedeuten, möglichst rasch die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß sie in die Europäische Gemeinschaft können. Das wiederum geht nur über Assoziierungen, und zwar solche, die nicht sehr viel nach dem Jahr 2000 Mitgliedschaft bedeuten.

Auf der anderen Seite muß sich die EG auch darauf einstellen, daß eine beträchtliche Anzahl von Menschen kommen wird, denen man nicht einfach die Tür vor der Nase zuschlagen kann. Willy Brandt

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Es wird in Südafrika einen neuen Kreislauf aus Repression und militärischem Abenteuertum geben. Und all dies wird in einem internationalen Klima aus Indifferenz und zynischem „Realismus“ unbemerkt bleiben. Schon jetzt gibt es eine neue Welle Exilsuchender, schwarzer wie weißer. Tausende Flüchtlinge im Landesinnern verlassen die „Killing Fields“, Zehntausende Landflüchtlinge umschlingen die Städte. Man wird den Staat plündern und demontieren. Die Todesschwadronen führen schon jetzt einen „schmutzigen Krieg“, und mit Inkatha haben wir unsere eigene Renamo. Wir haben eine im Aufbau begriffene OAS (die französische Organisation de l'Armée Secrète während des Algerienkrieges, A.d.Ü.), die zum ersten Mal in den regelrechten Feldschlachten zwischen bewaffneten Weißen und verzweifelten, „illegalen“ Slumbewohnern mitmischt. Wir werden die Barbarei kennenlernen — und den anhaltenden Strom von Menschen, die sich von Tod zu Tod bewegen, auf der Suche nach Asyl für eine Weile. Breyten Breytenbach

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Manche Franzosen fordern von den jungen „Maghrebins“ eine Art „öffentlichen Kniefall“ — zum Beispiel die Abkehr von den islamisch geprägten Wertvorstellungen der Eltern.

Das ist eine ärgerliche Forderung, die sich gegen diejenigen kehrt, die sie erheben.

Schon bei Spinoza heißt es, daß „jedes Wesen danach strebt, seine Seinsweise zu erhalten“. Man darf von diesen jungen Menschen nicht erwarten, daß sie ihre Integration so teuer bezahlen, man darf ihnen nicht den Bruch mit der Tradition oder gar einen Verrat abverlangen.

Wir sollten nicht vergessen, wie es den „Harkis“ ergangen ist, jenen Algeriern, die sich im Befreiungskrieg auf die Seite der Franzosen schlugen und in Waffen gegen ihr Land antraten. Aus Unwissenheit, Angst oder Dummheit glaubten sie, sich verleugnen zu müssen — nach dem Krieg traf sie die Verachtung beider Lager. Tahar Ben Jelloun

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Weil er uns Angst macht, stellt der Fremde unsere eigene Rolle in der Gesellschaft in Frage. Ich muß ihn nur ansehen, um zu begreifen, daß auch ich, in den Augen eines anderen, ein Fremder sein kann. Für ihn wäre ich jemand, der ihm Angst macht. Betrachtet man die ganze Menschheit, so kann man schließen, daß wir allesamt Fremde sind. Wir alle tragen etwas in uns, das uns nicht gehört, das wir nicht enträtseln, in das wir nicht vordringen können. Weil er mir auf eine Weise ähnlich ist, erschreckt mich der Fremde. Letztlich fürchte ich ihn nur, weil ich vor mir selbst erschrecke. Wie, wenn ich der andere wäre? Die Wahrheit ist: Er gleicht mir.

Mehr noch, er zwingt mir seine Rolle auf. Daß ich ein Heim, einen Beruf und eine Familie habe, heißt nicht, daß ich weniger fremd bin als er. Wie rasch kann der Alteingesessene entwurzelt werden, von einem Augenblick zum anderen verliert der Mensch, der glücklich und zufrieden lebte, seinen Platz an der Sonne. Ich weiß das aus eigener Erfahrung, weil ich einer Generation angehöre, die erlebt hat, wie alles ins Wanken gerät und wie verwundbar die Menschen sind. Von einem Tag auf den anderen, in einem schicksalhaften Augenblick, verloren die Reichen ihr Vermögen, die Honoratioren ihre Freunde und die Denker ihre Orientierung. Plötzlich waren sie aller Grundrechte beraubt. Frankreich hat seine jüdischen Mitbürger verstoßen, und Ungarn hat sie verleugnet. Plötzlich zählte nichts mehr: weder militärische Auszeichnungen noch Adelstitel oder die gesellschaftliche Stellung. Ein Dekret, ein Federstrich hatte genügt, und alteingesessene Familien, die in diesen vermeintlichen Kulturnationen seit Jahrhunderten lebten, wurden mit einem Mal behandelt wie Eindringlinge, wie Fremde.

Mit anderen Worten: Man wird sehr schnell zum Fremden — es genügt, so behandelt zu werden. Man wird ausgeschlossen, weil es Menschen gibt, die einen verstoßen. Das heißt auch, daß stets einer die Verantwortung dafür trägt, daß der andere sich nicht mehr zugehörig fühlen darf, seine Sicherheit und damit seine Identität verliert. Es ist meine Schuld, wenn der andere zum anderen wird. Von mir hängt es ab, ob sich ein Mensch zu Hause fühlt oder nicht, ob er gelassen oder verängstigt in unsere Welt blickt. Wer immer eine Zuflucht braucht, soll dort, wo ich lebe, willkommen sein. Wenn er bei mir ein Fremder bleibt, dann werde ich auch ein Fremder sein. Elie Wiesel

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