: Die fundamentalistische Alternative
■ Den radikalen Moslems in Algerien gelang es, die sozialen Proteste religiös zu besetzen
Seit den letzten Kommunalwahlen im Juni 1990 hat die FIS die meisten Mandate in den Gemeinden und Bezirken Algeriens. In 853 Kommunen von insgesamt 1.541 und in 32 von insgesamt 48 Bezirken regiert seitdem die Islamische Heilsfront. Das Verhältnis zwischen der FIS und der seit 1962 regierenden FLN hat sich seitdem kontinuierlich verschlechtert. Den Erfolg der FIS werteten viele Beobachter als einen Denkzettel an die verhaßte FLN, die dreißig Jahre jegliche Opposition im Lande unterdrückte.
Der Zulauf, den die FIS vor allem bei der Jugend Algeriens genießt, ist auf die allgemeine soziale Unzufriedenheit und Frustration zurückzuführen und auf die Unfähigkeit der Regierung, auf die unzähligen Probleme Algeriens eine Antwort zu finden: Vetternwirtschaft und Korruption innerhalb der FLN, eine immer größere Kluft zwischen Arm und Reich, bis heute ungeklärte Schmiergeldaffären — in die hochrangige Politiker verwickelt sein sollen — sowie eine zunehmende Entfremdung zwischen islamisch geprägter Bevölkerung und westlich orientierter Regierungspolitik brachten den Islamisten neuen Zulauf. Der FIS ist es gelungen, den Protest gegen die Regierung religiös zu besetzen.
Aufwind bekam die FIS zwischen März und April dieses Jahres, im Fastenmonat Ramadan. Sie errichtete in eigener Regie Volksküchen, verteilte Kleidung an Arme und eröffnete sogenannte „islamische Märkte“, auf denen der Verbraucher billiger einkaufen konnte als auf staatlichen oder privaten Märkten. Die FIS war dazu in der Lage, weil ihre Aktivisten ohne Entgelt für die Partei als Verkäufer oder Transporteure arbeiteten und dazu die Logistik der von der FIS geführten Gemeindeverwaltungen nutzten.
Einheit der islamischen Opposition zerbrochen
Dennoch führte die kommunale Politik der FIS nicht zu den versprochenen Verbesserungen. In den vergangenen Monaten mehrten sich in den von der FIS geführten Kommunen die Proteste gegen die politische Führung. Die FIS habe dort die konkreten Probleme wie Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit entgegen ihren Versprechungen nicht gelöst, sondern habe sich nur hinter einer religiösen Fassade versteckt, so lauteten die Vorwürfe. Anstatt die wahren Probleme anzugehen, beschränkte sich die FIS auf das Verbot von öffentlichen Musikveranstaltungen, die Schließung von Musikschulen und die Durchsetzung der Geschlechterteilung in den Schulen. Die Folge: Es wurden neue islamische Parteien gegründet, die in Konkurrenz zur FIS standen. Damit war die Einheit der islamischen Opposition zerbrochen.
Immer wieder kam es zu Reibereien zwischen FIS-Gemeinden und den von der Regierung eingesetzten Präfekten (Walis). Die Walis weigerten sich, von der FIS eingeleitete Maßnahmen zu unterstützen. Die FIS forderte daher den Rücktritt der Regierung und des Präsidenten noch vor den geplanten Wahlen am 27.Juni.
Die FIS warf der Regierung vor, sich ein Wahlgesetz nach Maß geschneidert zu haben. Die Wahlkreise seien so eingerichtet worden, daß die FIS schlechtere Chancen habe als die FLN. In dem traditionell FLN- freundlichen Süden genügten schon tausend Stimmen für einen Parlamentssitz, in den FIS-Hochburgen im Norden dagegen mußte ein Kandidat 150.000 Stimmen sammeln, um in das Parlament zu gelangen. Die Oppositionsparteien warnten davor, der FIS zu viele Konzessionen zu machen und forderten die Regierung auf, etwas gegen die radikalen Islamisten zu unternehmen. Das algerische Gesetz zur Gründung politischer Parteien verbietet Parteien, die sich auf religiöser Grundlage bewegen und Rassismus oder Regionalismus propagieren.
Radikalisierung durch Moscheengesetz
Das Verhältnis zwischen der Regierung und der FIS verschlechterte sich weiter nach der Verabschiedung eines Gesetzes, das den Mißbrauch der Moscheen zu politischen Zwecken verbietet. Dieses Gesetz schaffte einen gesetzlichen Rahmen, der die Zuständigkeit des Staates über die Kultstätten bekräftigt, sowie ein Instrumentarium, das ihm erlaubt, rechtlich gegen die FIS vorzugehen. Die Reaktion auf dieses Gesetz war die Radikalisierung der islamistischen Bewegung. Ali Belhadj, neben Abbassi Madani der zweite Mann innerhalb der FIS und einer der feurigsten Prediger des Landes, erklärte daraufhin, daß er das Gesetz nicht respektieren werde, sondern es im Gegenteil mit „Füßen trete“. M.Tilmatine/Th.Dreger
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