FLIEHEN – ABER WOHIN?
: Was ist aus den Boat people geworden?

Die Bilder der zu Wasser flüchtenden Vietnamesen erregten vor über zehn Jahren die Aufmerksamkeit der Medien. Die Boat people galten als Flüchtlinge und erhielten humanitäre Hilfe. Nach der politischen Öffnung Vietnams wurden aus Flüchtlingen Auswanderer, die Hilfsprogramme sind seitdem an der Verhinderung weiterer Emigration orientiert.  ■ VON JONAS WIDGREN

Als die USA 1964 in das Kriegsgeschehen in Vietnam eingriffen, wurde die Bevölkerung dieses geteilten Landes für uns, die Generation der etwa Zwanzigjährigen, in Europa zum Symbol des Leidens der Dritten Welt schlechthin. Wir fühlten uns weit mehr mit ihrem Schicksal verbunden als mit dem der Menschen unseres alten Kontinents. Ich unterstützte die Antikriegspetitionen Schwedens im Herbst 1964 und nahm an dem berühmten Protestmarsch von 1968 gegen den Vietnamkrieg teil, der von Olof Palme und dem Botschafter Nordvietnams in Moskau angeführt wurde und für lange Zeit die Beziehungen zwischen den USA und Schweden einfrieren ließ.

Auf der anderen Seite des Atlantiks teilte dieser Krieg eine Nation. Bis heute hat die US-amerikanische Bevölkerung das Trauma nicht bewältigt, daß ein kleiner kommunistischer Staat die antikommunistische Supermacht in einem Krieg in die Knie zwingen konnten und Zehntausende US-Soldaten ihr Leben verloren. Der Exodus der Vietnamesen kann nur in seinem politischen Kontext analysiert werden. Die Abwanderung von fast 1,5 Millionen Menschen aus einem Land mit 65 Millionen Einwohnern innerhalb von 15 Jahren ist nicht außergewöhnlich. In Anbetracht der Umstände ist das Ausmaß normal: Ein vom Krieg zerstörtes Land, politische Umwälzungen, interne Spannungen, um sich greifende Armut gibt es in vielen Teilen der Welt. Millionen Menschen verlassen jedes Jahr aus dem einen oder anderen Grund ihre Heimat.

Weshalb steht dann aber der Exodus der Vietnamesen immer wieder im Brennpunkt aktueller Diskussionen zur Flüchtlingsproblematik? Drei Faktoren spielen dabei eine Rolle. Erstens der schon erwähnte politische; der Exodus aus Vietnam erzeugt Schuldbewußtsein, da viele von uns, die sich mit dem Land einst solidarisch erklärten, darin ein Zeichen eigenen Versagens erkennen.

Zweitens wird die Flucht auf den kleinen, seeuntüchtigen Booten, die an den Küsten verständnisloser Nachbarländer abgewiesen wurden, in den Medien eindringlich vermittelt. Ein sinkendes Boot mit hundert Frauen und Kindern an Bord spricht unser Solidaritätsgefühl unmittelbarer an, als Tausende Flüchtlinge aus Mosambik, die zu Fuß eine nicht sichtbare Grenze nach Malawi überschreiten.

Drittens entsteht der Eindruck, daß Flüchtlingsbewegungen zu Wasser theoretisch leichter zu erfassen sind als zu Land; gelänge es der internationalen Staatengemeinschaft, ein humanitäres Flüchtlingskonzept zu erarbeiten, könnte es möglicherweise auf andere Krisenregionen übertragen werden.

Mit der zweiten Begründung soll weder das unsagbare Leid der Boat people verharmlost noch unsere Hilfsbereitschaft abgewertet werden. Die dritte Erklärung ist ein Trugschluß. Paradoxerweise wären nur wenige andere Flüchtlingsbewegungen so – relativ – einfach zu organisieren gewesen und hätten nur schwer die zur Organisation notwendige wirtschaftliche Unterstützung erhalten.

Im Gegensatz zu den spontanen Immigrationen aus Sri Lanka, Zaire, dem Iran oder Libanon nach Deutschland und Frankreich hat die Gefahr unkontrollierbarer Einwanderung aus Vietnam für die USA oder Frankreich nie bestanden. Der vietnamesische Exodus erschien dem Westen als ein überblickbares und damit kontrollierbares Problem, das die Hilfsbereitschaft der Menschen stärker anspricht als Flüchtlingsströme, die sich über die Grenzen auch des eigenen Landes ergießen.

Die Übersiedlung der Vietnamesen in den Westen war der erste deutliche Hinweis, daß die demographischen Verschiebungen nicht ausschließlich im Süden stattfinden können. Aufnahmeländer der südostasiatischen Region wie Thailand, Malaysia, die Philippinen und Indonesien ließen keinen Zweifel aufkommen, daß sie sich als Zwischenstation anboten und Boat people nur aufnehmen wollten, wenn diese schließlich in westliche Länder weiterwanderten. Andernfalls verweigerten sie die Landeerlaubnis.

Alles hatte im Frühjahr 1975 begonnen, als der Krieg in Vietnam nach 40 Jahren zu Ende ging. Etwa 130.000 Bewohner, die mit den USA und Südvietnam zusammengearbeitet hatten, wurden zu ihrem Schutz vor allem in die Vereinigten Staaten ausgeflogen. 1978/79 wies die Regierung an die 300.000 Vietnamesen, hauptsächlich chinesischer Abstammung, aus. Die meisten gingen nach China und in andere Nachbarstaaten. Ein beträchtlicher Teil verließ das Land in überbelegten Booten, von denen viele kenterten. Vorbeifahrende Schiffe boten den Verzweifelten keine Hilfe an. Die westlichen Medien wurden aufmerksam.

1979 appellierte die Völkergemeinschaft in einer UNO-Krisenkonferenz an Vietnam, die Abschiebungen einzustellen und forderte die Regierungen der Nachbarstaaten auf, eine großzügigere Asylpolitik zu betreiben. Der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) wurde beauftragt, die Auswanderung zu überwachen, eine außergewöhnliche Maßnahme, das Orderly departures programme (ODP) wurde erstellt. Dieses Programm ermöglichte es der Flüchtlingsorganisation – die sonst nur Menschen auf der Flucht beistehen darf – erstmals, im betreffenden Land die Auswanderung zu organisieren. Um die angrenzenden Asylländer zu entlasten, erklärten sich vor allem die USA, Kanada und Westeuropa bereit, eine große Zahl der in den Lagern untergebrachten Flüchtlinge aus Vietnam aufzunehmen.

Als Folge dieser internationalen Zusammenarbeit ebbte der Flüchtlingsstrom ab, der 1981 seinen Höhepunkt erreicht hatte; bis 1988 verließen nur noch 20.000 Menschen jährlich Vietnam. Über eine Million Vietnamesen ließen sich im Westen nieder, die meisten stammen aus den Flüchtlingslagern außerhalb Vietnams, 100.000 finden durch das Orderly departure programme des UNHRC eine Heimat.

Es schien, als hätte man das Problem wenn nicht gelöst, so doch unter Kontrolle. Doch 1988/89 setzte eine neue Flüchtlingswelle ein. 120.000 Vietnamesen flüchteten, wieder vor allem in Booten. Waren es in den späten siebziger Jahren politische Gründe, die die Menschen flüchten ließen, ist es nun die katastrophale Wirtschaftslage. „Doi moi“, der „Wind der Erneuerung“, kommt auch in diesem bis dahin streng kommunistisch ausgerichteten Staat auf: Eine Liberalisierung der Justiz und des wirtschaftlichen Systems setzt ein. Die Marktwirtschaft wird gefördert, was zu einer Verbesserung der politischen Beziehungen mit dem Westen (mit Ausnahme der USA) führt.

Wie am Beispiel Polens und Ungarns in den Jahren 1984 bis 1988 deutlich wurde, sind Menschen, die eine im Demokratisierungsprozeß befindliche Gesellschaft verlassen, nicht als politische Flüchtlinge zu betrachten. Man flieht vor der Diktatur, nicht vor der Demokratie. Auch eine drohende Hungersnot ist Grund, das Land zu verlassen. Nach der Dürreperiode von 1988 wurden die Lebensmittel zunehmend knapp. Mit Hilfe von wirtschaftlichen Sparprogrammen, unter der Aufsicht des Internationalen Währungsfonds gelang es zwar, die Wirtschaft zu stabilisieren und die Inflation zu stoppen. Doch die Arbeitslosigkeit stieg gleichzeitig um 30 Prozent.

Mehr als eine Million im Westen lebende Vietnamesen unterstützten mit ihren Ersparnissen in den achtziger Jahren die zurückgebliebenen Verwandten. 120 Millionen US-Dollar wurden jährlich überwiesen und waren ein Jahrzehnt lang ein bedeutender Teil des Cash-flows für Vietnam.

Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen das Land verlassen, werden nicht als politische Flüchtlinge eingestuft. Als die Aufnahmeländer der Region drohten, die Flüchtenden nicht mehr aufzunehmen, wurde der Westen besorgt, da das Leben der Boat people auf dem Spiel stand.

Die zweite UNO-Konferenz von 1989 in Genf überarbeitete das Flüchtlingsprogramm von 1979 und änderte einen wesentlichen Punkt. Wurde bis März 1989 allen Boat people, die in den Aufnahmeländern der Region Zuflucht fanden, prima facie der Flüchtlingsstatus zuerkannt, sollte von nun an jedes einzelne Asylansuchen überprüft werden. Mit anderen Worten: Aus einem Flüchtling konnte über Nacht ein Auswanderer werden. Die Gleichstellung Vietnams mit allen anderen Flüchtlingsländern ebenso wie die Hilfeleistungen an politischen Veränderungsbestrebungen innerhalb des Landes waren die Basis für das neue Programm, das die zweite UN-Konferenz 1989 erarbeitete:

–das Auswanderungsprogramm wurde von 43.000 im Jahr 1989 auf 57.000 Vietnamesen im Jahre 1990 erhöht;

–für Hongkong und andere Aufnahmeländer wurden Richtlinien zur Beurteilung von Asylansuchen erarbeitet (danach haben nur rund 10 Prozent aller Boat people Recht auf Asyl, alle anderen müßten im Prinzip nach Vietnam zurückkehren);

–die organisierte Rücksendung nach Vietnam (7.000 sind bereits zurückgekehrt, die USA sind gegen Abschiebungen) hält an;

–Fortsetzung der Ansiedlung in Aufnahmeländern der als Asylanten anerkannten Vietnamesen (30.000 verteilt auf die USA, Kanada und Westeuropa); 100.000 warten immer noch in den Flüchtlingslagern;

–eine gezielte Aufklärungskampagne innerhalb Vietnams soll die Bewohner zum Bleiben bewegen (was schon erste Erfolge zeitigte);

–ein EG-Entwicklungsprogramm für Vietnam wurde erstellt, das proportional auf die Zahl der rückkehrenden Vietnamesen ausgerichtet ist.

Dieser Plan – wenngleich noch auf schwachen Beinen – scheint aufzugehen; die jährlichen Kosten von 100 Millionen Dollar (Entwicklungshilfe nicht inbegriffen) sind allerdings beträchtlich.

Jonas Widgren ist Koordinator des Genfer UN-Forums für Migrationspolitik.