Kunst durch Freude?

■ Die Jawlensky-Preisträgerin Agnes Martin

Seit fast 15 Jahren malt die Amerikanerin Agnes Martin praktisch nichts anderes mehr als horizontale Linien. „Je öfter ich diese Linie zog, umso glücklicher fühlte ich mich“, bekennt die Künstlerin, der der kürzlich erst geschaffene Jawlensky-Preis der Stadt Wiesbaden zuerkannt wurde. Er ist mit 35.000 DM dotiert und hält ein Vielfaches dieser Summe für die Organisation von Ausstellungen bereit. 70 Arbeiten von Agnes Martin werden derzeit parallel zu Jawlensky im Museum Wiesbaden gezeigt.

Hymnisch reagiert die Fachwelt angesichts der Kunst der achtzigjährigen Malerin. Zwei große europäische Häuser haben sich an dem Ausstellungsprojekt beteiligt, das Stedelijk Museum Amsterdam und das Musée d'Art Moderne in Paris. Dorthin wird die Werkschau nach Wiesbaden und Münster gehen. Währenddessen werden Jawlenskys Bilder Wiesbaden nicht verlassen und bald wieder großenteils im Archiv bzw. in Privatbesitz verschwinden.

Eines beherrscht Agnes Martin mit Sicherheit besser als Jawlensky — sie kann sich verkaufen. Während Jawlensky in seinem ganzen Leben kein einziges „Stückchen Brot ehrlich verdiente“, erwirbt die Saatchi-Collection jedes dritte der spärlichen Jahresproduktion von acht bis zwölf Bildern der Amerikanerin. Um den Rest zanken sich amerikanische und europäische Museen und Sammler.

Noch in den Sechzigern und frühen Siebzigern füllte Agnes Martin ihre meist zartgrau grundierten, immer gleichgroßen Formate (183x183) mit Rastern in zurückhaltendem Bleistift. Seit Ende der siebziger Jahre ist sie auf horizontale Bänder spezialisiert, die sie meist in Weiß- oder Hellgrau-Tönen, manchmal gar in Rosa oder Hellblau anlegt und mit zittrigem Bleistiftstrich konturiert. Ihre frühen Bilder hätten „die Freude“ zum Thema, die späteren handelten von „Glück und Unschuld“, die letzen von „Lobpreisung“, kommmentiert die Künstlerin.

Die Fachwelt deliriert. Als Ergebnis „meditativer Erfahrung“, als „Einladung, sich angstfrei zu verlieren, da keine Bevormundung drohe“, als „Leere, gekennzeichnet durch Fülle“, als „reine gelassene Kunst“ apostrophiert sie die minimalistischen Produktionen der Amerikanerin.

Gewiß, sie sind ein Gegenentwurf zur grellen Kunst der Pop-Art. Auch mag sich Agnes Martin mit ihren beglückenden Horizontalen zurecht in die Tradition des abstrakten Expressionismus stellen, selbst wenn die Endprodukte eher an Minimal Art erinnern. Zugegeben auch, daß ihre in Gesso und Acryl angelegten Horizontalbänder um Klassen differenzierter und handwerklicher sind als alles, was jemals aus der Spritzpistole kam. Wahr auch, daß diese Bilder „erholsam“ sind und daß sich keine Künstlerin unseres Jahrhunderts bisher mit dieser Ausschließlichkeit einem einzigen formalen Element gewidmet hat. Aber genügt das?

Der Weg der Künstlerin sei die Hingabe, predigt Agnes Martin. Der Intellekt hingegen sei für die Kunst eine Gefahr: „Es gibt soviele Bilder, die nichtssagend sind, nur weil jemand beim Schaffen auf eine Idee kam.“

Die Ausstellung in Wiesbaden führt vor Augen, daß auch solche Bilder nichtssagend sind, bei denen man beim Schaffen auf gar keine Idee kam. Die Leere allein macht noch nicht das Kunstwerk, die Abwesenheit von Reflexion noch nicht die postulierte „Fülle“ in der Leere und ein paar horizontale Linien nicht das Glück. Martina Kirfel

Agnes Martin, Alexej-von-Jawlensky-Preisträgerin 1990, Museum Wiesbaden; bis 21. Juli 1991. Der Katalog in deutsch, niederländisch, französisch und englisch umfaßt 160 Seiten und kostet 75DM.