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Das Leben und nichts anderes

■ Ciro Capellaris „Der Junge vom Fluß“, 22.40 Uhr, ZDF

Der argentinische Regisseur Ciro Capellari hat sein Land während der Militärdiktatur verlassen. In Berlin ließ er sich zum Kameramann ausbilden. Unzweifelhaft hat er sich auch eine Breite Palette von Filmen aus dem Repertoire Berliner Programmkinos reingezogen. Was bei der Eingangsszene seines Debutfilms Der Junge vom Fluß sofort spürbar wird.

Juan ist Indianer vom Stamm der Charote und lebt im unterentwickelten Norden Argentiniens in einem Reservat. Der Fischfang, ihre Lebensgrundlage, ist jedoch bedroht. Fischgroßhändler am Pillomungo führen bleischwere Argumente gegen die illegal fischenden Indianer zu Felde.

Ein Schuß zerfetzt die Idylle. In Zeitlupe sinkt ein getroffener Indianer ins Wasser. Anpeitschende Psychomusik setzt ein. Die Übrigen rennen so schnell davon, daß Zweige gegen die subjektive Kamera schnellen. Der Eindruck eines mit einschlägiger Kinoästhetik aufgepeppten Sozialschinkens ist nicht ganz von der Hand zu weisen.

Weit gefehlt. Als der siebzehnjährige Juan gegen das Unrecht aufbegehrt, muß er das Dorf verlassen. Zum Abschied gibt ihm die Mutter eine Fotografie, die ihn zusammen mit einem Weißen zeigt. Auf der Suche nach der auf der Rückseite notierten Adresse begegnet er in Buenos Aires dem sympathischen Leichtfuß Rana. Geblendet vom Glanz der Fassaden und vom Großstadtchique schlendern die beiden durch die Metropole.

Ungezwungen und originell indes erzählt Regisseur Ciro Capellari drauf los. Eine ganz eigene Erzählökonomie schält sich bei ihm heraus. Lange, impressionistisch gewählte Einstellungen wechseln mit abrupten Schnitten. Unkompliziert und umstandslos wird gesagt, um was es ihm geht. Im Handumdrehen werden eine Fülle von Schicksalen angedeutet.

Diesen Stil steigert der Regisseur beinahe bis zur Karikatur auf die übliche Darstellung von Schicksalen in den Slums. Juan und Rana kommen bei Ramona unter, die in einer ärmlichen Wellblechhütte ohne Mann ihre sechs Kinder durchbringt. Eines nachts erwacht Juan, weil seine Hand über dem Bettrand ins Wasser hängt. Hüfthoch ist die Hütte überschwemmt. Fast lakonisch werden Rettungsversuche geschildert. Ein Kind fehlt. Es ist ertrunken. In der nächsten Einstellung ist Sonnenschein, und es geht schon wieder um etwas ganz anderes. Was aber genauso wichtig ist.

Diese ungekünstelte Sichtweise erzeugt eine Nähe zu den dargestellten Figuren, die scharf konturiert abgelichtet werden. Da kommt auch die kurze Liebesszene zwischen Juan und Ramonas ältester Tochter so direkt rüber, daß einem selbst das Herz einen Zentimeter mithüpft.

Vielschichtig eingesetzte Latinomusik ist weit mehr als nur atmosphärische Akzentuierung. Trotz der sehr europäischen Art zu filmen gerät der lateinamerikanische Bezug nie ins Hintertreffen. Straßenfeste, Aberglaube und Heiligenkult sind im öffentlichen Leben stark verwurzelt. Den poetischen Bogen des Films spannt Capellari daher über eine Art Robin-Hood-Figur, ein von „den Reichen“ gefürchteter Rächer der Armen, der von der (Militär-)Polizei niedergeschossen wurde und Juan immer wieder erscheint. Daß wir uns in einer Militärdiktatur befinden, wird ebenso beiläufig wie alles Übrige erzählt. Weil sie im Auftrag korrupter Beamter ein paar Autoradios geklaut haben, werden die Kids am Ende von schnauzbärtigen Folterpolizisten mit dem schweren Karabiner aus den Socken geblasen. Manfred Riepe

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