: Die Welt als Video und Vorstellung
Über digitale Vernetzung, virtuelle Kerker und reale Ausbeutung ■ Von Manfred Riepe
Früher hatte man einen Brieffreund in Japan. Der schickte Briefe auf seidendünnem Papier. Und auf dem Umschlag waren diese schönen Schriftzeichen abgebildet, die aussahen wie Teeblätter am Grund einer Reisschale. Auf dem langen Postweg von Japan bis hierher bekam der mit exotischen Stempeln verzierte Briefumschlag Eselsohren.
In wenigen Jahren nur wird sich das Szenario gänzlich gewandelt haben. Nur noch eine Armlänge entfernt, schreibt der per Brillenmonitor datenfernverdrahtete „Cyberfreund“ aus Japan dann keine Briefe mehr. Wird er per Tastendruck angewählt, so ertönt auf seinem Anrufbeantworter auch nicht mehr die Erkennungsmelodie von Detektiv Rockford. Statt dessen spielt sich eine holographisch reale Filmszene in unserem Empfänger-Brillenmonitor ab. Der „AnSICHTbeantworter“ verwickelt uns in eine Interaktion mit dem abwesenden Gesprächspartner:
Wir tasten uns durch den dunklen, feuchten Stacheldrahtverhau nach vorne. Von links ertönt Maschinengewehrknattern. Oben heult ein Bomber. Dann sind wir auf der Tanzfläche. Oder wir werden gleich vom gleißenden Lichtblitz über Hiroshima geblendet. Der Angerufene meldet sich heute als Humphrey Bogart, morgen als Mao Tse—tung und übermorgen als Godzilla, störungsfrei wie das Kabelfernsehen.
„Ich bin leider nicht zu Hause“, sagt die muskulöse Gestalt im olivgrünen Tarnanzug mit der Stimme von Robert De Niro und deutet auf Marmor und Schlagwerkzeug, „aber Sie können mir gerne eine Nachricht in Stein meißeln.“
Was wie eine Mischung aus LSD- Trip, Science-fiction und klinischer Psychose klingt, wird bald so antiquiert sein wie ein Luis—Trenker— Film. „Virtual Reality“, zu deutsch „virtuelle Realität“ (VR), lautet das Zauberwort. Es handelt sich um ein die Wirklichkeit unterwanderndes Simulationsverfahren, das derzeit durch die Computerlabors von Silicon Valley läuft.
„Virtuell“ meint, daß mit einer technologischen Kommunikationsprothese realitätsecht wahrgenommene Bilder, Geräusche und taktile Reize synchron zum menschlichen Bewegungsablauf vom Computer errechnet werden. Entsprechend dem virtuellen Bild, dem Spiegelbild, existiert im Computer eine „virtuelle Welt“. Monitorbrille, Datenhandschuh und —anzug ermöglichen den Sprung zu „Alice hinter den Spiegeln“.
Eine simple Überlegung steckt hinter dieser Erfindung. Die sicht- und erfahrbare Realität um uns ist ohnehin nur das, was durch die Sinnesorgane, das menschliche Auge mithin, „gespiegelt“ wird. Die Authentizität einer jeden Sinneswahrnehmung bemißt sich am Wechselspiel zwischen einfallendem Sinnesreiz und dessen Überprüfung. Überspitzt ausgedrückt, ist Realität eine Halluzination, die sich bei (fast) jeder Prüfung als wirklich herausstellt.
Das technologische Verfahren der virtuellen Realität ist nun das Ergebnis der systematischen Zergliederung dieses Prozesses. Zwischen der Wahrnehmung über die Sinnesorgane und der realitätsprüfenden Einwirkung auf das Wahrgenommene wird der Computer so dazwischengeschaltet, als wäre er — bildlich gesprochen — direkt neben dem Kleinhirn installiert.
Klingt spektakulärer, als es ist. Man muß sich das so vorstellen, daß der normale Fernsehapparat so sehr verkleinert worden ist, daß man ihn — endlich — als Brille auf der Nase tragen (oder als Kontaktlinse Netzhaut-TV betreiben) kann. Die „erste Reihe“, mit der ARD und ZDF sinnfällig werben, ist gegen diese unmittelbare Nähe zum Geschehen so weit entfernt wie die dunkle Seite des Mondes. Zwei stereoskopisch angeordnete Hochleistungsmonitore erzeugen ein Gesichtsfeld umspannendes Bild vor Augen, das in der Folge so photorealistisch klar sein wird, als würden wir aus dem Fenster schauen.
Ziel dieser Technologie ist es, das „Interface“ zwischen Mensch und Computer zu verbessern. Konventionelle „Benutzeroberflächen“ wie Schalter, Hebel, Tastatur, Joystick, Maus oder Touchscreen bilden einen nadelöhrartigen Zugang zum Computer. Dessen Potential bleibt damit unausgelastet. Der Computer ist eine Universalprothese, die zwar von Menschenhand gebaut wurde, deren „Bedienungsanleitung“ jedoch längst noch nicht entziffert ist.
Ersetzt man also das durch komplexes Maschinenkauderwelsch kodierte Eingabesystem via Tastatur durch ein an der normalen Alltagserfahrung geschultes „interaktives Verfahren“, so kann im Prinzip der Straßenfeger den Informatiker ersetzen.
Der „Cybernaut“ kann das System dann buchstäblich „von innen“ bedienen. Mit dem computertechnisch synchronisierten Abbild seiner Hand kann der „User“ virtuelle Datengebilde, die der Rechner vor ihm entstehen läßt, „berühren“. Für den Chemiker werden Moleküle greifbar. Der Karosseriedesigner kann simuliertes Blech mit der Hand kneten. Schüler erleben die Französische Revolution aus der Ballonfahrerperspektive. Konzipiert ist bereits ein Chirurgie-Simulator, in dem Medizinstudenten simulierte Leichen sezieren. Massenhaft über Videotape abgewickelte Partnerschaftsvermittlungen lassen sich in der telepräsenten Verbundschaltung „direkt“ vollziehen, digitale Probeehe eingeschlossen. Man munkelt schon von virtuellem Sex.
Komplette Räume werden mit diesem Verfahren real erlebbar. Man muß sich das tatsächlich so vorstellen wie den chinesischen Maler, der das Bild eines Hauses auf die Leinwand pinselt, um darauf die Tür zu öffnen und in seinem „Haus“ zu verschwinden (Rückkehr nur bei Stromausfall). Moderner ausgedrückt: Der Architekt kann den potentiellen Käufer durch die Eigentumswohnung führen, bevor noch der erste Spatenstich getan wurde. Der Kunde sagt: „Machen Sie das Fenster größer“, und es geschieht. Realität nach Maß und Wunsch.
Irgendwann ist die virtuelle Realitätskosmetik billiger als die reale. Wozu neue Tapeten an die Wand kleben, wenn via VR-Brille jede gewünschte Farbe oder Form erscheint. Realität im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit.
VR ist kein Phänomen, das dieser Tage erst erfunden wurde. Die Idee der VR stammt aus der „Bronzezeit der Informationstechnologie“. Ivan E. Sutherland von der Harvard University entwickelte schon 1965 das sogenannte „Ultimate Display“. Versuchspersonen konnten dadurch eine raumartige Umgebung sehen. Eine von Nasa und Pentagon entwickelte Flugsimulation zählt zu den weiteren Vorfahren.
Dieser virtuelle Hokuspokus, so die Kritik, ist lapidar. Die labyrinthischen Räume, von denen die Techniker schwärmen, sind so antiseptisch wie die blaue Eins als Programmlogo der ARD und so primitiv wie der erste computeranimierte Spielfilm Tron, der nach der ersten Vorführung 1982 einen gewaltigen Sturz der Disney-Aktien ausgelöst hatte.
Schlecht auflösende Grafik, stockende bewegte Bilder und klobige Datenprothesen bieten Skeptikern genügend Nahrung, VR als Fake und Media-Hype abzutun. Statistiken über den Rückgang der Rechnerbenutzung sollen uns belehren, das Ganze als pubertäre Phantasie technosüchtiger Computerkids abzutun.
Daß die Bildqualität der derzeit verfügbaren Prototypen noch nicht so authentisch wirkt wie ein Spielfilm von Steven Spielberg, erklärt Jaron Lanier von VPL, sei jedoch das allergeringste Problem. Die heutige Entwicklung der VR ist vergleichbar mit einem hochgezüchteten Rennmotor, dem nur noch die Karosserie fehlt.
Wer die Geschichte nicht heute schon ernstnimmt und sich mit dem Potential der VR auseinandersetzt, ist morgen ein Goldhamster im virtuellen Laufrad. Rechnet man die Computerentwicklung der letzten Jahre hoch, so kann man sich an fünf Fingern abzählen, wann es soweit ist, daß wir uns über Schwarz— Schillings in der ersten Ausbaustufe schon installiertes Glasfasernetz ISDN (Integrated Services Digital Network) den Weißen Hai in die Monitorbrille einspielen lassen können. Die Kapazität von ISDN ist so groß, daß über eine zwischen Hannover und Hamburg gelegte Probeleitung alle Telephongespräche Deutschlands gleichzeitig laufen könnten. Das daher zur Vernetzung der byte- intensiven VR taugliche ISDN ermöglicht die beidseitige Kommunikation.
Brechts Radiotheorie, nach der jeder Empfänger zugleich potentieller Sender ist, wird Realität, virtuelle Realität. Gegen Aufpreis gibt es dann also die Sonderversion vom Weißen Hai, bei der wir einige Dialogpassagen mitsprechen können oder sogar gebissen werden. Man stelle sich das vor: Tausende von Teilnehmern bei einer Spielshow, unter dem Brillenmonitor. Rudi Carell: voll zwischen die Augen.
Der frühere Videospiel-Designer Jaron Lanier von VPL ist der erste Ingenieur, der mit einer reinen Produktbeschreibung die Phantasien der Science-fiction-Schriftsteller zum Altpapier erklärte. Jules Verne konnte noch ein Unterseeboot beschreiben, bevor dies technisch realisierbar war. Heute werden technische Apparate entwickelt, an deren Beschreibung gerade die Autoren scheitern, deren Interesse es ist, eine computervirtualisierte Welt zu beschreiben, allen voran „Cyberpunk“ Kultautor Wiliam Gibson.
Der entwarf platte, romantische Szenarien um Konsolencowboys, die als kybernetische Krüppel durch abgelegene Schaltkreise wandern wie einst Philip Marlowe durch die finsteren Hinterhöfe von Los Angeles.
Der Stoff, aus dem die „Cyber(alp-)träume“ tatsächlich sein dürften, wird wohl eher mit Autoren konvergieren, die Worte wie Technik, Bildschirm oder Computer nicht im geringsten interessieren: Kreuzt man Becketts Warten auf Godot mit Carl Einsteins metaphernreicher Raumflucht Bebuquin und Daniel Paul Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, so kommt man der Sache schon näher.
Welchen ökonomischen Nutzen hat VR? Zunächst einmal wird Telekommunikation ersetzt durch „Telepräsenz“. Telephon und Television haben den Erdball schrumpfen lassen. Durch eine analog zur heutigen Computervernetzung betriebene Cyber-Verdrahtung, wird es möglich sein, an jedem beliebigen Ort „telepräsent“ zu sein. Der Globus fällt einfach weg. Gesprächspartner stehen sich in einem virtuellen Raum gegenüber, als wären sie tatsächlich gemeinsam anwesend. Tagungen und Konferenzen laufen über Monitorbrille. Die Geschäftsreise gerät zum Antagonismus, Geographie zum Pull-down-menue: Remote traveling. In der virtuellen Realität gibt es kein dort. Alles befindet sich im „Hier und Jetzt“. Wie auf LSD.
Das ist auch der Grund, warum angeschimmelte Drogenpäpste wie Tim Leary aus ihren Gräbern steigen, um sich als virtuelle Trittbrettfahrer auf dem Cyber-train zu falschen Propheten zu ernennen. Was vergessene Popgruppen wie „Grateful Dead“ mit modernen Elektronik- Formationen wie „Bonner Klangmaler Biene Maya Augenmusik“ gemeinsam haben, ist, daß sie Cyberspace und Bildgeflacker als trivialen Aufguß der Hippieästhetik zu betreiben. Von daher ist dieser Aspekt von Cyberspace nur ein moderner Mythos.
Mit den ökonomisch-soziologischen Perspektiven der virtuellen Realität hat der Mythos Cyberspace soviel zu tun wie „Heavy Metal“ mit Opel Rüsselsheim. Geht es doch nicht um einen grellbunten, versponnenen digitalen Tagtraum, nicht um ein virtuelles Kaffeekränzchen am Rande der Festplatte, nicht um exzessive Computerbenutzung, sondern einfach darum, eine Technologie zum Einsatz zu bringen, die in der Folge so „perfekt“ ist, daß sie als Technologie überhaupt nicht mehr in Erscheinung tritt.
Die digitale Gegenwelt im Computer ist ein realitätsmanipulierendes Kosmetikum. Langweilige Arbeitsvorgänge, unattraktives Äußeres etc. werden einfach virtuell „überdubbt“. Unter der Cyberbrille sind Gestalten und Physiognomie so schnell gewechselt wie Hemden. Stumpfsinnige Büroarbeit läßt sich enthusiastisch erfüllen. Per Brille zwanglos gleichgeschaltet, funktionieren Individuen wie die Windhunde, die dem vor ihrer Nase baumelnden Kotelett hinterhersausen. Subjektiv mag er dabei an einem virtuellen Wrestling teilnehmen oder er läßt sich von einem spannenden Fußballspiel fesseln. Wobei er lediglich in regelmäßigen Abständen den Aschenbecher ausleeren muß — der in der Realität der Produktionshalle ein schnödes Werkstück ist, das es zu bewegen gilt. Gegen das Ausmaß dieser Entfremdung erscheint die industrielle Revolution wie die Einführung der abwaschbaren Tapete.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen