: Unsäglich kleinkariert
■ Auslandskorrespondenten zur Hauptstadtfrage
Das Gezerre um den Regierungssitz des neuen Deutschland nimmt immer bizarrere Formen an. Ausgerechnet für die Entscheidung zwischen Bonn und Berlin wollen einige zu einer Volksabstimmung aufrufen. Was, wenn „das Volk“ seine Wahl nur mit einer knappen Mehrheit trifft? — Andere nennen „Konsenslösungen“, was ihnen an grotesken Kompromissen, an nahezu mathematisch ausgetüftelten Büro-Verteilungsschlüsseln einfällt. Doch abgesehen davon, daß eine Trennung von Parlament und Regierung (oder Teilen davon) einer politischen Selbstverstümmelung gleichkäme, sind all diesen Vorschlägen zwei Dinge gemeinsam: Sie sind von unsäglicher Kleinkariertheit geprägt, und sie sind alle nicht aufrichtig. Denn sie tun so, als bestünde das Problem nur darin, das Wasser aus der Gießkanne so zu verteilen, daß keine der beiden Regionen verdorrt. Es darf aber doch nur darum gehen, welches Zeichen die Deutschen mit ihrer Entscheidung setzen, nach innen wie auch nach außen. Der Hauptstadt-Zank ist nur ein Symptom dafür, daß sich in den Köpfen noch immer zwei unvereinbare Blöcke gegenüberstehen. Da ist weder die Einheit vollzogen, noch wird an einem „europäischen Haus“ gebaut. Es stimmt sicher zuversichtlich, daß vor allem Westdeutsche keinesfalls an unheilvolle Traditionen anknüpfen und mit diesem Argument alles beim alten lassen wollen, mithin auch die Regierung in Bonn. Doch es zeigt auch, wie sehr ihr Denken im alten West- Schema steckt, wie wenig sie von den Umwälzungen wahrhaben wollen, die im Osten stattfinden. Nicht nur „das Volk“, auch die politische Klasse ist überfordert von der anstehenden Neuorientierung, und das manifestiert sich in der jämmerlichen Hauptstadt-Erbsenzählerei. Berlin würde ein klares Zeichen setzen, daß Deutschland sich seiner veränderten Rolle in einem sich verändernden Europa bewußt ist. Aber eine deutliche Entscheidung für Bonn würde dem Ansehen Deutschlands immer noch besser dienen, als wenn seine Ministerialbeamten und ihre Dienstherren künftig in überfüllten und notorisch verspäteten Shuttle-Fliegern zwischen Rhein und Spree hin- und herjetten. Sabine Sütterlin
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