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Wiedervereinigung mit kleinen Fehlern

Beobachtungen beim deutschen Filmpreis 1991  ■ Von Kraft Wetzel

„Seid umschlungen, Millionen...“

Wieder einmal soll in der Kunst gelingen, was im gesellschaftlichen Alltag scheitert. Wenn schon Wirtschaft und Gesellschaft der beiden Teile Deutschlands, statt schnell zu verschmelzen, in ihrer enormen Verschiedenheit immer deutlicher hervortreten und stetig weiter auseinanderdriften, dann sollen wenigstens im kulturellen Überbau Rituale der Aussöhnung und Vereinigung inszeniert werden.

Der „Deutsche Filmpreis 1991“, den der Bundesminister des Inneren am letzten Donnerstag in Berlin vergab, stand denn auch demonstrativ im Zeichen deutsch-deutschen Zusammenwachsens. Zum ersten Mal in seiner 41jährigen Geschichte konnte der wichtigste, am höchsten dotierte Filmpreis dieses Staates „für künstlerische Leistungen aus ganz Deutschland, aus Ost und West, vergeben werden“, verkündete der Minister „ein bißchen stolz“; damit besiegele diese 41.Preisverleihung „für den deutschen Film das Ende jahrzehntelanger Teilung“.

Der vom BMI berufene Auswahlausschuß war denn auch um drei ostdeutsche Juroren auf 17 Mitglieder erweitert worden. Von den höchsten Auszeichnungen vergab er diesmal jede zweite an ostdeutsche Produktionen: Roland Gräfs Der Tangospieler wurde ebenso mit einem Filmband in Silber (plus 700.000DM) bedacht wie Sybille Schönemanns dokumentarische Spurensuche Verriegelte Zeit; das dritte Filmband in Silber wurde Volker Schlöndorffs Max-Frisch-VerfilmungHomo Faber, das einzige Filmband in Gold (plus 900.000DM) Werner Schroeters Ingeborg-Bachmann-Verfilmung Malina zuerkannt.

Auch bei den Filmbänder in Gold für „hervorragende Einzelleistungen“ wurden mit Michael Gwisdek und Jurek Becker zwei Ostdeutsche bedacht. Vor allem aber wurde diesmal das Filmband in Gold für ein „Gesamtwerk“ an den ostdeutschen Regisseur Frank Beyer verliehen: mit würdevoller Bescheidenheit überreicht von Wim Wenders, der Galionsfigur des westdeutschen Films, zusätzlich unterstrichen mit einer über zehnminütigen Hommage aus Filmausschnitten quer durch Beyers Lebenswerk.

Unser Muster-Ossi

Dieses Filmband in Gold für das Lebenswerk eines Ostdeutschen setzt die symbolische Einverleibung des aktuellen Ost-Films in die Filmgeschichte hinein fort. Dieses Werk, jedenfalls diese im Zusammenschnitt aufgeblätterten Filmtitel, gehören ab jetzt zum gesamtdeutschen Kulturfundus. Gewiß werden in den nächsten Jahren auch andere bedeutende Ost-Regisseure aus der DEFA- Erbmasse filtriert und durch Preise, Sendungen, Monographien kanonisiert werden. Doch warum wurde als erster Frank Beyer herausgepickt und nicht etwa Heiner Carow, Rainer Simon, Herrmann Zschoche, Egon Günther oder etwa Jürgen Böttcher?

Daß die Wahl des ministeriellen Ausschusses auf Frank Beyer fiel, signalisiert, wie sich die bundesdeutsche Filmpolitik Ost-Regisseure wünscht, welcher Ost-Typus von uns am ehesten angenommen und integriert, vor allem den anderen Ossis als Vorbild präsentiert wird. Mit Beyer wird ein Pragmatiker herausgestellt, einer, der die Balance zwischen Anpassung und Eigensinn halten konnte, der zwar aneckte, auch mal verboten wurde (1966 mit Spur der Steine, 1968 mit Geschlossene Gesellschaft), der sich dann aber weder bis zur Gesichtslosigkeit anpaßte noch zum Dissidenten, gar zum Märtyrer radikalisierte, einer, den man denn auch stets weiterarbeiten lassen konnte, weil er den Bogen der vorgefundenen Möglichkeiten nie überspannte.

Dazu kommt, daß Beyer auch ästhetisch ein Pragmatiker ist: einer, der „große“, allseits anerkannte, also finanzierbare Stoffe (am häufigsten: Antifaschismus) mit einem soliden Sinn für kinowirksame Dramaturgie aufbereiten und mit zugkräftigen Schauspielern (am liebsten: Manfred Krug) populär erzählen kann: der Typus des demonstrativ bescheidenen Kinohandwerkers, wie er im selbstverliebten westdeutschen Autorenfilm so gut wie ausgestorben (oder, wie Schenkel, Petersen, Schlöndorff, ausgewandert) ist. Er gehörte denn auch zu den wenigen, die zwar drüben blieben, sich aber frühzeitig auf deutsch-deutsche Ko-Produktionen orientierte. 1988 schon drehte er die DEFA/Allianz- Produktion Der Bruch, mit Götz George (West), Rolf Hoppe (Ost) und Otto Sander (West) in den Hauptrollen.

Risse in die Nebelwand

Daß Frank Beyer die in ihn gesetzten West-Erwartungen nicht enttäuscht, demnonstrierte er in seiner kurzen, sorgfältig ausformulierten Dankesrede. Er nutzte die Gelegenheit, um vor laufender Kamera eine Lanze für seine DEFA-Kollegen zu brechen, über denen nach wie vor das Damoklesschert einer weitgehenden Liquidation des Babelsberger Studiobetriebes schwebt, die deshalb Angst vor der Arbeitslosigkeit haben. Aber er tat dies so konziliant wie nur möglich: eingepackt in eine — manchen seiner Ost-Kollegen schon peinliche — Huldigung des Ministers, dem Beyer zweckoptimistisch unterstellte, er habe mit dieser Auszeichnung, ein „Zeichen gegen die Pauschalverurteilung von DDR-Kunst“ setzen wollen.

Ins selbe Horn hatte bereits der Schauspieler Michael Gwisdek gestoßen, als er das Filmband in Gold für seine Darstellung des „Tangospielers“ in Empfang nahm. Er war an diesem Abend der erste, der aus der verordneten „Wir sind jetzt alle eine Familie“-Seligkeit ausscherte und seine widersprüchlichen Empfindungen offenlegte, ausagierte: hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, sein Herz auszuschütten, und der eingefleischten Vorsicht, sich vor hohen Herren nicht den Mund zu verbrennen, stotternd deshalb, mit halb verschluckten Sätzen und in der Luft stehenbleibenden Gesten.

Gwisdeks diffuse und doch beredte Intervention gab seiner Kollegin Katrin Sass, die mit Lena Stolze diesen Teil der Zeremonie moderierte, die Chance nachzulegen: Sie fiel aus ihrer Rolle und verlas eine Presseerklärung des Brandenburger Verbandes der Filmschaffenden. Darin wurde eine Äußerung des von der Treuhand eingesetzten DEFA- Aufsehers Schiwy aufs Korn genommen, in der DEFA gäbe es keinen Platz mehr für eigenständige Spielfilmproduktion. Dies sei, so die um ihre Arbeitsplätze bangenden Filmleute, ein Versuch, „die ostdeutsche Konkurrenz auszuschalten“.

„Konkurrenz ausschalten“: Wie Rasierklingen schnitten diese Worte durch den Nebel gesamtdeutschen Wohlwollens. Scharf und unversöhnt stand plötzlich die beinharte Wirklichkeit des deutsch-deutschen Filmgeschäfts im Raum. Keine Spur von wechselseitiger, gar einvernehmlicher Verschmelzung zweier Produktionskulturen: Wie in anderen Wirtschaftszweigen zeichnet sich auch auf diesem Feld ein Verdrängungswettbewerb ab, den die Westdeutschen bereits für sich entschieden haben.

In den Ost-Kinos hat längst die West-Ware Einzug gehalten, gegen die der Progress Filmverleih mit seinen DEFA-Filmen keine Chance hat. Geld für neue Ost-Produktionen fehlt; der einzige deutsche Film, der derzeit in den Ost-(wie übrigens in den West-)Kinos Erfolg hat, ist Go, Trabi, Go, stammt von der Münchner Bavaria und wird von der Münchner Neuen Constantin verliehen.

Und den DEFA-Studios in Potsdam-Babelsberg droht das Aus. Gewiß, der Bund greift, wie der Minister berichtete, der Filmproduktion im Osten in diesem Jahr mit über 20 Millionen DM unter die Arme; doch das geschieht im Rahmen der „kulturellen Übergangsfinanzierung“. Wie den Studios auf Dauer geholfen werden kann, weiß auch der Minister nicht zu sagen: er kündigt Gespräche für den Herbst an, die „die Erhaltung und weitere Förderung der Filmkultur im Osten Deutschlands zum Gegenstand haben“ sollen.

Nun ist der Bundesminister des Innern ja auch nicht Herr der Lage. Schon daß er sein Filmreferat um einen Filmbeauftragten für die neuen Bundesländer erweiterte, der im ehemaligen Kulturministerium in Ost- Berlin Büro hat, ist den Kultusministern der neuen Bundesländer ein Dorn im Auge. Die pochen zwar auf ihre Zuständigkeit, nur Geld haben sie keins, jedenfalls nicht für die Förderung von Filmproduktionen und filmwirtschaftlicher Infrastruktur.

So zeichnet sich ein harter Selektionsprozeß unter den ostdeutschen Filmschaffenden ab: Für eine Handvoll prominenter Ostdeutscher werden unsere Förderungsgremien und Fernsehredaktionen einen begrenzten Spielraum, vor allem zur realsozialistischen Vergangenheitsbewältigung, einräumen — das Gros freilich wird sich andere Arbeit suchen müssen oder im sozialen Netz enden.

„Schande über uns alle“

Für den westdeutschen Film war das deutsch-deutsche Vereinigungsritual ein Segen: Es lenkte ab davon, daß er nun schon seit mehreren Jahren in der Krise steckt, nicht nur auf dem Kinomarkt, sondern auch künstlerisch und gesellschaftlich bedeutungslos, fast schon unsichtbar geworden ist — und das, obwohl Zahl und Volumen der staatlichen Hilfsprogramme immer noch wachsen. Während der Verleihungszeremonie im Theater des Westens sprach diesen erschreckenden Mangel an geistiger, politischer, künstlerischer Substanz ausgerechnet Volker Schlöndorff aus, einer der am höchsten dotierten Preisträger.

Heiter lächelnd, sichtlich animiert von der Gesellschaft seiner jungen Hauptdarstellerin Julie Delphy, übte er massive Kritik an sich selbst und seinen Kollegen. Schämen sollten sich die westdeutschen Filmemacher, weil sie nicht auf der Höhe der Wirklichkeit seien: „Schande über uns alle!“ Er könne nur hoffen, daß sie bald wieder „spannendere Filme“ machen würden.

Mich hat Schlöndorffs souveräne Ehrlichkeit angenehm überrascht. Denn er traut sich, an dem Ast zu sägen, auf dem er selber sitzt. Offenbar ist er es leid, sich und anderen etwas vorzumachen. Nur zu gut weiß er, daß seine Max-Frisch-Verfilmung Homo Faber keinerlei aktuelle Brisanz hat, daß sie so unnötig ist wie ein Kropf.

Filme wie Homo Faber und Malina kommen zustande, weil sich bei uns nichts so vergleichsweise leicht finanzieren läßt wie die Adaption eines gut abgehangenen Buches, vorzugsweise eines „modernen Klassikers“, der in den Schulen gelesen wird: das macht das Fernsehen mit, das nehmen die Kritiker ernst, dafür gibt's Preise — und auf ein paar Hunderttausend Zuschauer kommt man auch, wenn's gut geht, dank des Ruhms der Vorlage und prominenter internationaler Besetzung, die man sich bei soviel good will eben auch leisten kann.

In dieser Lage hätten die Juroren des Ministeriums Zeichen setzen können. Sie hätten den einzigen unter den zehn nominierten Filmen auszeichnen können, der filmästhetisch innovativ ist: Step Across the Border von Nicolas Humbert und Werner Penzel, ein durch und durch musikalischer Film, der die lähmende Herrschaft der Literatur, überhaupt der Worte, über die Bilder und Töne abschüttelt. Oder sie hätten — durchaus auf ihrer deutsch-deutschen Linie — den einzigen Film mit Ost-Thema prämieren können, der das positive, utopische Potential des DDR-Kollaps, die hinter der Mauer aufgestauten Energien, Wünsche, Sehnsüchte, zu ihrem Recht kommen läßt: Go, Trabi, Go, eine stellenweise wunderbar exzessive Komödie über drei Sachsen mit Trabi, die zum ersten Mal nach Italien reisen — immer noch der einzige Film weit und breit, der uns spüren läßt, daß das Zusammenleben mit diesen Ostlern auch Spaß machen könnte.

Doch Step Across the Border verstanden sie nicht, die traditionalistischen Bildungsbürger, die den Ausschuß dominieren, und Go, Trabi, Go verstanden sie zu gut, war ihnen zu populistisch. Ihr großer Favorit in diesem Jahr war Malina, dem sie neben der höchsten Auszeichnung auch noch drei Filmbänder in Gold für hervorragende Einzelleistungen zusprachen: Isabelle Huppert für ihr in der Tat virtuoses und hemmungsloses Spiel, Juliane Lorenz für die Montage und Werner Schroeter für die Regie.

Damit schlug sich dieser Ausschuß demonstrativ auf die Seite eines Kunstverständnisses, das ihr Heil sucht in der möglichst radikalen Abkehr von Alltag und Gesellschaft, in der Flucht nach innen, ins Reich der großen, vorzugsweise tragischen Gefühle. Malina beschreibt die Selbstzerstörung einer liebeskranken Frau nicht einfach, sondern er zelebriert, genießt sie; am liebsten ließe Schroeter, dessen erste Liebe der Oper gilt, seine sich zu Tode quälende Heldin ihren Schmerz singen.

Für die älteren Herren im ministerialen Ausschuß hat so ein hochkultiviertes Bad im Schmerz vermutlich dieselbe Funktion wie Hollywoods Katastrophenfilme für den kleinen Mann: Hinterher freut man sich, daß man selbst noch am Leben, noch einmal davon gekommen ist.

Werner Schroter gehört zu den Dominas unseres Kulturbetriebes. Er lebt vom schlechten Gewissen, von den verdrängten masochistischen Phantasien der Oberen. Bei der Entgegennahme des Preises sagte er dann auch danke und sonst gar nichts, und das sagte er so, daß es als Affront wirken konnte. Er weiß, daß er immer mal wieder in die Hände beißen muß, die ihn füttern. Die hohen Herren geben's zwar nicht zu, aber sie lassen sich's gerne gefallen: Denn im Grunde ihres Herzens wissen sie, daß sie keine bessere Behandlung verdient haben.

Behinderten-Olympiade

Irgendwie klappt's nicht. Seit dem Ende der sozialliberalen Ära, seit Friedrich Zimmermanns Amtsantritt, eifern die Bonner mit ihrer Filmpreis-Zeremonie der Oscar- Verleihung Hollywoods nach, nur um dieses Vorbild ständig zu verfehlen. Es half nichts, daß sie diesmal Catherina Valente engagierten und als einzigen „internationalen Showstar Deutschlands“ anpriesen, und es half nichts, daß sie das DFF- Fernsehballett in den Farben der amerikanischen Flagge als Eisenbahn über die Bühne hoppeln ließen. Bei den älteren Herren im Saale schien Valentes seicht-nostalgisches Medley von The Way We Were bis As Time Goes By ebenso anzukommen wie die knackigen Schenkel und Popos der Ex-DDR-Mädels — aber zu den auszuzeichnenden Filmen und ihren Repräsentanten paßten diese Show-Einlagen ebensowenig wie Andreas „Leo“ Lukoschik, der diesmal als Zeremonienmeister engagiert worden war. Dies war eben keine der Beautiful-People-Parties, an denen sich Leo sonst gütlich tut: Neben Schwergewichten wie Beyer und Wenders, Gräf und diesmal auch Schlöndorff wirkte der Münchner Dandy mit seinem bemühten Gewitzel wie ein aufdringlicher Schnösel.

Woran liegt es nur, daß auch diese Filmpreis-Zeremonie wieder zu zusammengestoppelt wirkte, schon beim Zuschauen in lauter heterogene Bestandteile zerfiel?

Mit dem Oscar feiert sich eine intakte, profitable und deshalb selbstbewußte Branche. Sie selbst bestimmt das Material und die Formen dafür, und sie braucht keine politischen Rücksichten nehmen, kann hemmungslos ihrem Vergnügungsinteresse frönen. Die deutsche Filmbranche jedoch bringt offenbar weder das Geld noch die Phantasie auf, sich selbst in vergleichbarer Weise zu feiern. Sie hätte freilich auch wenig Grund dazu: Sie hängt am Tropf staatlicher Subventionen, ist angewiesen aufs Wohlwollen der öffentlichen Hand, der Politik. Der Deutsche Filmpreis ist denn auch nicht ihr Fest, sondern eine Benefiz-Veranstaltung des Staates für sie; zum Oscar verhält sich der Deutsche Filmpreis denn auch in etwa wie die Behinderten-Olympiade zur regulären [Warum mißbrauchen „Gesunde“ „Behinderte“ für ihre Analogien? Woher kennt K.W. die Maßstäbe von Krüppeln, die Sport treiben? d.K.].

Am Fimpreis-Abend geben sich die Filmleute denn auch Mühe, der Vorstellung zu entsprechen, die Vater Staat sich von ihnen macht: Heute sind wir alle artig, Papa verteilt Taschengeld! Und wie zu Hause klappt's dann doch nicht mit dem Artigsein. Wenn sie vor'm Mikro stehen, löcken sie doch wider den Stachel, fallen aus der Primus-Rolle, pieksen Löcher in Papas Sprecblasen.

Deshalb scheitert die Bonner Veranstaltungsregie jedes Jahr aufs Neue, und taugt doch erst in ihrem Scheitern: gerade in all dem, was daneben geht, was an „unpassenden“ Worten und Gesten herausrutscht, zeigt sich der wahre Zustand des deutschen Films.

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