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Die Herrschaftsfrage nicht gestellt

■ Dr. Seltsams Frühschoppen

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Seltsam, wie die Ereignisse einander gleichen: Dr. Seltsam, ehemals Feuilletonist einer Berliner Tageszeitung, hat sein altes Problem wieder eingeholt: er erhielt Auftrittsverbot.

Seine rücksichtlose, von manchen als menschenverachtend empfundene Praxis der Kulturkritik, die ihm bereits als Journalist den Zorn von Teilen seiner Leserschaft entgegenschlagen ließ, hat ihn und seine Männergruppe nun bei den Betreibern des Café Subversiv in der Rosenthaler Straße anecken lassen.

Eine »bedeutende Fraktion« der Okkupanten — so einer der Frühschöppner — setzte am vergangenen Sonntag die Absetzung des bereits seit einiger Zeit erfolgreich in dem Besetzerlokal präsentierten satirischen Programms durch. Der Grund: Jürgen Witte, angewidert vom affirmativen, kunstbeflissenen Presseecho, das der Kunstgewerbe-Ausstellung »Metropolis« im Martin- Gropius-Bau zuteil wurde. Er hatte sich den Sex-Shop am Rosenthaler Platz für seine Parodie einer Kunstkritik ausgesucht: »Kunst als Kommerz pur ist das Konzept der neuen Arbeiten der Flensburger Künstlerin Uhse. Das Environment des ersten Raums besteht aus Materialbildern mit pornografischem Sujet, die durch Zellophanverpackungen Distanz signalisieren. Auch Uhses Plastiken unterstreichen diese Distanz. Nur aus einer Hülle bestehend und in Packungen zusammengelegt, entziehen sie sich dem Blick des Betrachters.« So hatte Witte sinngemäß noch am vorvergangenen Sonntag fabuliert.

Doch anstatt das saturierte Berliner Feuilleton zu treffen, fühlten Bewohnerinnen des Frauenhauses im Wohnprojekt um das Besetzer-Café sich angegriffen, hatte es doch der Autor unterlassen, »die Herrschaftsfrage« zu stellen. Wittes Text fehle der Hinweis darauf, daß Frauen im Porno-Geschäft vor allem Objekte seien. Schließlich beantwortete das kontrovers diskutierende Plenum die Herrschaftsfrage selbst mit der de- facto Verhinderung des Auftritts.

Als der Frühschoppen mit zweistündiger Verspätung im Café Paz im Kulturhaus Mitte stattfand, nahm sich das halbe Dutzend Herren all des tagesaktuellen Klatsches an, der als Gegenwartskultur gehandelt wird. Das aus gelesenen Texten, einem Lied und einer szenischen Lesung bestehende 75-Minuten-Programm wartete u. A. mit der Geschichte der Flucht einer Berlinerin aus der Hölle ihrer Ehe mit einem Schwaben (»Aber nicht ohne ihre Tochter«), einer geschmäcklerischen Hommage an die Weddinger Stehgastronomie und Betrachtungen zur Spiegel-Bestseller-Liste auf. Ein Gedicht gab schließlich Auskunft darüber, warum pornografische Darstellungen soviel Ärger hervorrufen: weil Betrachten nichts gegen Selbermachen sei. Stefan Gerhard

Wer Dr. Seltsam und seinen Frühschöppnern die Herrschaftsfrage persönlich stellen möchte, kann das am Sonntag um 13 Uhr im Café Paz im ersten Stock des Kulturhauses Mitte (Rosenthaler Straße 51) tun. Der Eintritt ist frei

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