: Zu spät (re)habilitiert
■ Ein Nachruf auf den DDR-Musikwissenschaftler Eberhardt Klemm (1931 bis 1991)
Was Kurt Weill an Neuem in die — ein schauderhaftes Wort — Szene der Musik gebracht hat, ist ein ganz spezifischer Ton“, faßte Eberhardt Klemm im Oktober vergangenen Jahres in einem Disput des Deutschlandfunks über „Anpassung und Widerstand“ zusammen. „Weill war, was meistens unterschätzt wird, ein großer Melodiker und in dieser Hinsicht seinen Zeitgenossen, die in den zwanziger Jahren einen Paradigmenwechsel in der Musik durchsetzten, überlegen. Das Spezifische ist das, womit er die Idee des Epischen bediente: der gar nicht so abgeschlossene Song- Stil — eine Mischung aus dem, was Ernst Bloch den Abfall der Musik nannte; aus dem, was damals unter Jazz verstanden wurde; und eben einem starken melodischen Duktus.“
In diesen Sätzen klingen zentrale Motive der Publikationen Klemms an, der an der Karl-Marx-Universität Leipzig Physik, Philosophie und Musikwissenschaft studierte, 1966 über das Prinzip der Permutation in den Reihen-Kompositionen promovierte und es dann — wegen hinhaltender Widerstände der offiziösen DDR-Musikforschung — über das Assistentendasein nicht hinausbrachte. Die ihm bereiteten Schwierigkeiten waren signifikant für das Klima der Geisteswissenschaften, das da in festgefügtem administrativem Rahmen verbreitet wurde — und Klemm, der sich freilich kritisch auch für das aus dem Westen kommende Neue interessierte, war keineswegs vorzuwerfen, daß er den „Standpunkt der Klassenfeinde“ propagiert hätte. „Wir verehren Hanns Eisler als den bedeutendsten deutschen Komponisten der Arbeiterklasse“, schrieb er 1973. „An ihrer Kulturfront kämpfte er für eine neue revolutionäre Musik, die bewußt als Mittel im Kampf des Proletariats verwendet wurde.“ Eben daß die dem „gesellschaftlichen Fortschritt“ dienliche Musik revolutionär und (in musikalischem Sinn) neu sein müsse und könne, markiert den Kernpunkt der Widersprüche.
Eberhardt Klemm gehörte zu den ersten in der DDR, die sich mit serieller Musik befaßten und sich für diese engagierten. Er machte sich für die Schönberg-Schule stark, als diese noch unterm Bannstrahl der Shdanowschen Ästhetik stand (und gab Arnold Schönbergs Harmonielehre heraus); er kümmerte sich um die Mahler-Rezeption in der DDR (und edierte Gustav Mahlers Sechste Symphonie), um Charles Ives, Erik Satie, Stefan Wolpe und Hermann Scherchen (dessen Briefe er veröffentlichte). Reisen in westliche Länder wurden ihm bis zum Fall der Mauer verwehrt. In einem Land, in dem es praktisch keinen freien Markt für die Publikation von Texten über Musik gab, überwinterte er als freier Autor, sorgte für den Druck der Klavierwerke Debussys, belebte das Peters-Jahrbuch in Leipzig wieder und kümmerte sich um das verblassende Andenken an Hanns Eisler (dem er zwei Bücher widmete). Mitte der achtziger Jahre übernahm Klemm auf Anregung einer der Eisler-Witwen die Leitung des (offiziell keinesfalls sonderlich geliebten) Hanns- Eisler-Archivs der Akademie der Künste der DDR.
Die (Re-)Habilitation des Bloch- Kombattanten Klemm kam zwanzig Jahre zu spät — vor vierzehn Tagen wurde ihm in Leipzig ein Lehrstuhl zugesprochen. Vorige Woche starb Eberhardt Klemm an den Bauchschmerzen, die ihm die fürsorgliche Behandlung durch die „bessere Hälfte“ der deutschen Musikforschung bereitet hatte. Damit verlor die Musikwissenschaft in den neuen Bundesländern eine ihrer charakteristischsten Persönlichkeiten: einen beharrlichen Arbeiter an seiner „Front“, einen nicht zu gängelnden Autor, einen interessanten und witzigen Diskussionspartner. Einen der wenigen, die so etwas wie „DDR- Identität“ in die neuesten deutschen Verhältnisse hätten „einbringen“ können: eben weil er ihnen, von links denkend, kritisch gegenübergestanden hatte. Frieder Reininghaus
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen