Täuschungs-Manöver

Kleists „Amphitryon“ in Frankfurt/Oder in der Regie von Andreas Kriegenburg  ■ Von Peter Staatsmann

Diese Kleist-Inszenierung rekonstruiert, wie es anders in einem Theater der ehemaligen DDR nicht sinnvoll wäre, die letzte deutsche Geschichte aus der Perspektive der DDR-Erfahrungen. Die Schlüsselszene für das Ende des sozialistischen Experiments steht am Anfang. Amphitryons Diener Sosias, in Frankfurt heißt er Sosias Müller und wohnt „an der Traufe“, erhält aus dem Bühnenhimmel ein Päckchen nach dem anderen. Eine Unmenge Seidenanzüge stehen ihm plötzlich, von Gnaden des Geschäftsgottes Merkur, der für Jupiters ungestörte Amoure mit Amphitryons Frau Alkmene Sorge trägt, zur Verfügung, und er streift sie sich alle über. Seine alten lumpigen Klamotten gibt er weg. Der erwartete Effekt bleibt jedoch aus, die Leutchen, die er auf sein gutes Aussehen hin befragt, bleiben gleichgültig. Noch nicht einmal einen Anzug wollen sie haben. Da wird ihm die Sache langweilig und er entledigt sich der hinderlichen Edelkleidung wieder.

So leicht, wie in dieser utopischen Szene, werden aber seine Landsleute den Verführungen, die der „Himmel“ noch bereithält, nicht widerstehen. Der (Bühnen-)Himmel ist die Transzendenz, aus der die Pakete mit den changierenden Seidenstoffen herniederfallen und aus der Jupiter und Merkur an einer Stange vom Olymp herunterrutschen. Transzendente Mächte durchschaut man nicht, man ist ihnen ausgeliefert. So wie der Prolet Sosias dem handelskundigen Manipulator und Propagandisten Merkur, der ihm seine Identität stiehlt, ihn in Schach hält und übel zurichtet. Amphitryon, dieser patriarchal beschränkte Herrscher, steht in der Frankfurter Inszenierung für die pervertierte „proletarische“ Herrschaft im ehemaligen deutschen Arbeiter- und Bauernstaat DDR. Der Kampf, den er dem selbstgefällig-blöden Jupiter ansagt, ist gewiß nicht aussichtlsos, aber trotzdem von Anfang an verloren. Denn er ist ja selbst ein Mächtiger, der mehr und weiter will. Seine Leute, die ihn zum Führer ihrer Revolution machen, läßt er sogleich im Stich, als ihm von Jupiter ein Göttersohn versprochen wird. Der Aufstand ist aus, der Verräter und ewige Kollaborateur legt seine Faschingströmmelchen, mit denen er Stimmung machte, weg. Der Westen hat seinen Ableger in Aussicht gestellt und schon läuft alles nach seiner Regie.

Alkmene, die Frau, um die es eigentlich geht, ist nur Objekt der Mächtigen, und anstatt sich zu entscheiden, wird sie nur umhergerissen. Die Trugbilder des „Himmels“ sind zu wirksam, als daß sie es noch vermag, den richtigen Amphitryon vom falschen zu unterscheiden. Die Entscheidungsszene gipfelt in einem furiosen Kampf, an dessen Ende die Entscheidung für Jupiter steht. Doch das Einvernehmen zwischen Amphitryon und Jupiter, die Alkmene nun gemeinsam als die künftige Gebärerin des großen Vereinigers Herkules-Helmut inthronisieren, zeigt, daß diese gar keine wirkliche Wahl hatte.

Jupiter gibt sich mit der bloßen Verführung nicht zufrieden. Er will mehr. In seiner expansiven imperialistischen Dynamik fordert er zunächst nur, als der bessere und einzigartige Liebhaber anerkannt zu werden, bald jedoch soll ihn Alkmene auch als Gott erkennen und schließlich will er öffentlich als „big boss“ bestätigt werden.

Der kapitalistische Westen kann seinen Luxus und Wohlstand nur noch im Selbstgefühl des Triumphs über den scheiternden, besiegten Osten genießen. Seine eigenen Aporien und sein eigenes Scheitern, sein leeres Antlitz verschwindet nur im Moment der Übermächtigung des sozialistischen Gegners: „Ach Alkmene! Auch der Olymp ist öde ohne Liebe.“ Daß der Gott den Menschen braucht, um sich zu fühlen, um zu sein, dreht die Frankfurter Inszenierung ins Politische, ohne die Differenzierungen dieser Konstruktion aus den Augen zu verlieren. Deshalb verhilft Jupiters maskierter Liebesakt mit Alkmene dem Olymp auch nicht zur Liebe, die er entbehrt, sondern verbietet die Ödnis des Konsumparadieses auch in diesem Landstrich.

Verlierer sind dabei alle anderen, sie fallen am Ende dem Abgrund anheim, der sich auf der Vorderbühne auftut. Nur der unaufhörlich traktierte Sosias, der hart im Würgegriff Merkurs in grausigem Herren-Tanz geführt wird, mühsam den Bewegungen folgend, und die — vergewaltigte — Alkmene, Spielball und Brutkasten für die alten und neuen Herren, sie bleiben übrig, betrogen und gequält, aber immer noch mit Reserven von widerspenstiger Liebe begabt. Beide sind nicht gefragt worden und ihnen wurde übel mitgespielt. Sosias legt am Schluß zärtlich solidarisch seinen Arm um die Schulter von Alkmene.

Kriegenburg und seine außerordentlichen Spieler haben Amphitryon in seiner ganzen Vielschichtigkeit erhalten, es ihnen gelungen, den Text in die politisch-aktuelle Lesart aufzuheben, ohne die Polyvalenz der Konfliktbearbeitungen bei Kleist zu verlieren.

Eingehende politische Reflexion kombiniert sich in dieser Inszenierung mit Phantasie und theatraler Fertigkeit und Lust. Die Aufführungen dieser Amphitryon-Bearbeitung ermöglichen Erinnerungsarbeit und politisch-aktuelle Auseinandersetzung. Der Preis, den die „deutsche Geschichte“ fordert und der bezahlt wurde und wird, ist ohne Retusche zur Kentnnis zu nehmen. Da wurde übertölpelt und gewaltsam verführt, wird vergewaltigt und betrogen — ein Krieg geführt und um Macht gepokert. Nichts wird uns erlassen. Die Ratlosigkeit, ob die Angreifer schlimmer sind mit ihren Tricks und Attacken oder die Angegriffenen in ihrer Arglosigkeit, entscheidet die Inszenierung nicht.

Regie: Andreas Kriegenburg. Mit Horst Damm, Bernd-Michael Lade, Dirk Wäger, Torsten Ranft, Rahel Ohm, Barbara Teuber, Andrej Kaminsky, Tatjana Thomas.