Kein Hauptstadt-Konsens in Sicht

Drei Tage vor der Abstimmung stehen sich Bonn- und Berlin-Befürworter weiterhin kompromißlos gegenüber/ Weiterhin Gerangel über Zahl, Inhalt und Reihenfolge der abzustimmenden Anträge  ■ Aus Bonn Gerd Nowakowski

In der Frage einer künftigen Aufgabenteilung zwischen Bonn und Berlin stehen sich die Gegner weiterhin unversöhnlich gegenüber. Vor der bis zum Redaktionsschluß laufenden Sitzung der sogenannten Verfassungsorgane legten die Berlin- Freunde einen Vorschlag vor, dessen Kern der Umzug des Parlaments und der Regierungsspitze an die Spree ist. Die Bonn-Unterstützer reicherten dagegen das sogenannte Voscherau-Modell weiter an, bei dem Regierung und Parlament in Bonn verbleiben. Ob für die Abstimmung des Bundestages am Donnerstag auch das Geißler-Modell — Bundesregierung in Bonn, Parlament nach Berlin — als Antrag vorliegt, will der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Geißler unter anderem von den Beratungen der CDU/CSU-Fraktion abhängig machen.

Die Berlin-Befürworter, deren Antrag unter anderem von Willy Brandt (SPD), dem FDP-Fraktionsvorsitzenden Solms, Bundesinnenminister Schäuble (CDU), Wolfgang Ullmann (Grüne/Bündnis 90) sowie dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Hans Jochen Vogel getragen wird, fordern den Umzug des Parlaments und des „Kernbereichs der Regierungsfunktionen“ nach Berlin. Die Arbeitsfähigkeit des Bundestages soll in vier Jahren, die „volle Funktionsfähigkeit“ Berlins als Parlaments- und Regierungssitz in spätestens zehn bis zwölf Jahren erreicht sein. Bonn soll „Verwaltungszentrum“ der Bundesrepublik bleiben; damit soll der größte Teil der Arbeitsplätze erhalten bleiben. Der Bundespräsident soll seinen ersten Sitz in Berlin haben. Der Bundesrat dagegen solle in Bonn bleiben.

NRW-Minister Wolfgang Clement (SPD) wertete dagegen bei der Vorlage des nachgebesserten Voscherau-Plans die Vorstellungen der Berlin-Fans als „Kumulation aller Nachteile“. Das Berlin-Konzept einer horizontalen Teilung der Ministerien sei zudem derart unpraktikabel, daß Verwaltungspraktiker das „Schaudern“ bekämen. Urteil: „unschlüssig, unpraktikabel und deshalb nicht akzeptabel“. Die Bonn-Befürworter mit Bonns Bürgermeister Daniels, dem SPD-Politiker Ehmke und dem FDP-Vertreter Baum an der Spitze fürchten eine „Destabilisierung aller parlamentarischen und politischen Tätigkeiten“.

In ihrem Konzept bleiben Parlament und Regierung in Bonn; der Bundespräsident und der Bundesrat sollen dagegen nach Berlin. Daß der Bundeskanzler und weitere Ministerien einen zusätzlichen Dienstsitz in Berlin nehmen können, wird zugestanden. Außerdem sollen in jedem der fünf neuen Länder mindestens fünf Bundeseinrichtungen angesiedelt werden, darunter mindestens eine Bundesoberbehörde.

Welche Vorschläge am Donnerstag zur Abstimmung stehen werden, ist derzeit nicht zu übersehen. Heiner Geißler brachte seinerseits den im Auftrag der CDU/CSU-Fraktion erarbeiteten Vorschlag einer Trennung zwischen Parlament und Regierung in schriftlicher Form in die Sitzung der Verfassungsorgane ein. Geißler nannte die beiden neuen Konzepte entgegen den lebhaften Beteuerungen ihrer Befürworter keine Kompromißvorschläge, sondern „verbrämte Radikal“-Positionen. In seinem Konzept möchte Geißler dem von den Bonnern bei einem Umzug des Parlaments befürchteten „Rutschbahneffekt“ durch ein Gesetz begegnen, der Bundesregierung und Ministerien zum Verbleib in Bonn zwingt. Zu Redaktionsschluß tagten die Verfassungsorgane noch.