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Die Gotteslämmer vom Bodensee

■ Wohlversorgt von der lokalen Bevölkerung und finanziert durch Spenden führt die fundamentalistische Christengemeinde Agnus Dei auf dem „Frauenberg“ ihr gottgefälliges Leben. Bruder Rufus unterrichtet die Kinder/ Von HOLGER REILE

„Lache nie, trauere über deine Sünden, wie einer trauert, der einen Toten bei sich hat.“ (Antoniusregel)

Der Weg zur katholischen Laiengemeinschaft Agnus Dei führt von der kleinen Gemeinde Bodman steil den Berg hinauf. Hoch über den westlichen Ausläufern des Bodensees steht ein ehemaliges Zisterzienserkloster. In einer Urkunde aus dem Jahre 1296 wird der heute „Frauenberg“ genannte Hügel erstmals erwähnt. Anfang des 14.Jahrhunderts wurde eine Kapelle eingebaut, und seitdem gilt der Frauenberg als Wallfahrtsort.

Seit etwa neun Jahren bewohnen die Agnus-Dei-Leute das Kloster zum Nulltarif. Der Eigentümer, Graf Wilderich von und zu Bodman, ist mit seinen Mietern zufrieden. „Die“, sagt er, „passen da hin.“ Und die, das sind momentan rund 30 Erwachsene, alle zwischen 20 und 40 Jahre alt, und etwa ebensoviele Kinder. Ein Teil wohnt im Kloster, der andere unten in Ludwigshafen, auf dem „St.-Josefs-Hof“, einem ehemaligen Gutshof, der ebenfalls dem Grafen gehört. Bei soviel Entgegenkommen ist es nur allzu verständlich, daß die Gemeinschaft ihren Wohltäter und seine Familie ins Gebet einschließt: „Gott segne und schütze“, klingt es auf einer der zahllosen Agnus-Dei-Propagandakassetten, „alle Verstorbenen und Lebenden der Familie Bodman.“

In den langen Klosterfluren auf dem Frauenberg hat sich seit Jahrhunderten nichts verändert: Meterdicke Mauern, abgelaufene Holzfußböden, kein Strom, kein Bad, weder Radio noch Fernsehen. Im Erdgeschoß befinden sich einige Gemeinschaftsräume und eine große Küche. In den oberen Stockwerken sind die spartanisch eingerichteten Privaträume. Zum Gebet halten sich die Agnus-Dei-Leute meist in der sogenannten Krypta auf. Dort hängen vor der Türe in Eigenarbeit zusammengeschneiderte Mönchskutten; ein magerer Sonnenstrahl taucht die Szenerie in ein diffuses Licht. Rund um die Uhr beten die Brüder und Schwestern im Schichtdienst, einzeln und still in sich versunken, oder aber gemeinsam und dann stundenlang.

„Hier“, so erzählt Bruder Elija alias Herbert Grundberger und Gründer der Gemeinschaft, „ist der Ort der Stille und des Gebets.“ Wenn Elija nicht gerade in wallenden Gewändern wandeln würde, könnte man meinen, einem der letzten klassischen Landkommunarden der siebziger Jahre gegenüber zu stehen. Aber Elija ist weder ein Alternativ- Softie noch ein desillusionierter Öko-Pax-Zeitgenosse. Er schwingt hier den Taktstock, ist die zentrale Figur, um die sich alles dreht. Einer, der in dem Bewußtsein lebt, daß ohne ihn nichts geht. „Gott führt uns durch ihn“, dieser Satz kommt fast allen Agnus-Dei-Mitgliedern wie selbstverständlich über die Lippen.

Elija hat in Frankfurt und Tübingen Ethnologie studiert, von 1970 bis 1977 war er „auf der Suche nach der tieferen Sinn- und Lebensfrage“. Klar, einen spirituellen Abschnitt habe es gegeben, „etwas Hippie-, dann Öko-Bewegung, von allem etwas, ein Abtasten eben“. Auf den Sommer 1977, bei einer Fahrradtour um den Bodensee, datiert Elija „eine erste, starke und entscheidende Begegnung mit Gott. Da habe ich gewußt, das ist es, was ich immer gesucht habe.“

Von da an wird gebetet; immer mehr Gleichgesinnte gesellen sich dazu, das Studium der Bibel rückt in den Mittelpunkt. Über Schwäbisch Hall, Waldshut und Maurach führt der Weg der damals noch kleinen Gemeinschaft 1982 auf den Frauenberg. Weitab von weltlichen Einflüssen will man hier „in der Nachfolge Christi“ leben und so dicht wie möglich die Urform des Christentums praktizieren.

Die Mitglieder der Gemeinschaft sind nach und nach alle in die Katholische Kirche eingetreten, im Gegensatz zur evangelischen habe man dort mehr Spiritualität vorgefunden. Der Lebensunterhalt der Gruppe werde durch „die Vorsehung“ geregelt, heißt es im gängigen Jargon, Spenden eines äußeren Kreises und sonstige Zuwendungen kämen dazu. Und, nicht zu vergessen, das Kindergeld für den etwa 30köpfigen Nachwuchs.

Wer sich der gottesfürchtigen Herde anschließen will, muß alle irdischen Güter hinter sich lassen, „denn hier herrscht absolute Besitzlosigkeit“. Weiß einer nicht wohin mit dem angesammelten Ballast vergangener Jahre: Das Agnus-Dei- Bankkonto wehrt sich nicht gegen Überweisungen. Eine Brotfabrik aus der nächsten Stadt überläßt den Brüdern und Schwestern gratis allerlei Backwerk, die Landwirtschaft auf dem „St.-Josefs-Hof“ versorgt die Glaubensgemeinschaft mit Kartoffeln, Obst und Gemüse.

In den vergangenen zwei Jahren lebte die Gruppe relativ abgeschottet und zurückgezogen, seit kurzem aber öffnet sie sich. Auf dem Frauenberg tauchen vermehrt Besucher auf, manche bleiben nur einen Tag, um zu beten, andere hoffen, ganz in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Der 38jährige Klaus ist einer von ihnen. Der ehemalige Maschinenschlosser hat schon vor Jahren seinen Job aufgegeben und ist auf Reisen gegangen. „Irgendwie bin ich dann aufs Indische gestoßen, bei verschiedenen Gurus gewesen und dann hing ich an der Nadel und schließlich wegen Drogenhandel im Knast.“

„Dieser Lebensstil ist eine Frage des göttlichen Auftrags“

Sein Bruder habe ihm dann geraten, eine Pilgerfahrt ins jugoslawische Medjugorje mitzumachen. In dem Marien-Wallfahrtsort will Klaus Wunder erlebt haben, und nach einem einzigen Rückfall sei er vom Rauschgift losgekommen. Klaus hilft vor allem in der Landwirtschaft und verbringt ansonsten jede freie Minute in der Krypta, beim Gebet, das er Heilung nennt. „Ich hab' früher immer mit dem Bösen gespielt, hier bin ich erfüllt, und wenn die Gemeinschaft einverstanden ist, will ich bleiben.“

Bei Agnus Dei gibt es eine klare Geschlechterhierarchie. Die Gotteslämmer halten es da mit Apostel Paulus, dem Frauenhasser und größten Prediger der christlichen Sündenpsychose, der schon vor knapp 2.000 Jahren gesagt hat, das Weib habe einer Gemeinde nicht vorzustehen. Die überlieferten Anweisungen der Vorväter stoßen bei den christlichen Fundamentalisten des 20. Jahrhunderts durchaus auf Gegenliebe. Die Schwestern kochen, putzen, versorgen die Kinder, und beim Gebet in der Krypta kauern sie hinter den Brüdern in zweiter Reihe. Die Agnus- Dei-Männer sind für die schweren körperlichen Arbeiten zuständig. Eine Diskussion über geschlechterspezifische Rollenverteilungen erübrigt sich, denn „dieser Lebensstil“, erklären zwei Frauen, „ist keine Frage des Stellenwerts, sondern des göttlichen Auftrags.“

Den Kern der Gruppe bilden die Familien mit ihren Kindern. Dann gibt es noch Schwestern und Brüder, die im selbstauferlegten Zölibat leben. „Freie Liebesbeziehungen“, Elija sagt das hart und bestimmt, „sind absolut tabu.“ Zur Triebüberwachung funktioniert bei Agnus Dei ein simples Kontrollsystem. Ehelos Lebende werden niemals miteinander alleine gelassen, immer ist ein Bruder oder eine Schwester zur Stelle. Verhütungsmittel sind verboten. Abtreibung, egal, aus welchen Gründen, gilt als Mord.

Finden irgendwo in der Region Veranstaltungen zum Paragraphen 218 statt, sind auch die Brüder und Schwestern nicht weit. Elija inszeniert dann in der Regel publicitywirksame Auftritte: Er vorneweg, ein Holzkreuz schleppend, hinter ihm, singend und wehklagend, seine Mitstreiter. Die Anordnungen des Zweiten Vatikanischen Konzils werden befolgt: Der eheliche Akt muß den Willen zum Kind immer einschließen, einzig und allein die natürliche Empfängnisregelung, besser bekannt als „Knaus-Ogino-Methode“, wird, wenn auch widerwillig, gerade noch akzeptiert. So wird in klösterlicher Abgeschiedenheit praktiziert, was von päpstlicher Seite abgesegnet ist. Alles andere entspringt den Verlockungen dunkler Mächte, von der Pille bis zum Pessar, vom Coitus interruptus bis zum Kondom. „Ein Prinzip“, spottet der Publizist und Kirchenkritiker Karl- Heinz Deschner, „das natürlich zuerst der Mehrung der Kirchgänger und klerikalen Kader dient.“

Die Biographien der einzelnen Gruppenmitglieder weisen durchgängige Parallelen auf. Großgeworden in gutbürgerlichen Elternhäusern, dann meist die erste, frühe Revolte. Mitarbeit in politischen und anderen Organisationen, oft Drogenerfahrung. „Auf der Suche nach der tieferen Sinn- und Lebensfrage“ — diese Formulierung taucht immer wieder auf, scheint jederzeit abrufbar. Schließlich etwas Zen, ein bißchen New-Age.

Dann der Bruch auch damit, nach jahrelangem Herumirren nun endlich eine Familie mit Schutzcharakter, ein Zuhause. Vom Hard-Rock zum Ave Maria, und dabei wollen sie bleiben, empfinden langersehnte Anerkennung bei einer in sich homogenen Gruppe. Akzeptieren, um nicht die gewonnene Geborgenheit aufs Spiel zu setzen, auch eine Führerfigur wie Bruder Elija.

Ihre neue Religiosität scheint ihnen die Abnabelung von draußen zu erleichtern. Die Abnabelung von der Familie, vom Berufsleben, vom sozialen Umfeld ihrer bisherigen Existenz. Die Bibel als letzte, entscheidende Autorität legitimiert auch den Loslösungsprozeß von der gesellschaftlichen Realität. Glaube und Evangelium sind nun gewissermaßen Eintrittskarte für eine neue Wirklichkeit.

Die christlichen Fundamentalisten sind nach Ansicht vieler Beobachter die zur Zeit wohl einzig wachsende, christliche Bewegung hierzulande. Oder wie es der Theologe und Buchautor Gunnar von Schlippe kurz und bündig formuliert: „Der Rückschritt macht Fortschritte.“

Die Erwachsenen haben für sich eine Entscheidung getroffen, ihre Kinder wurden nicht gefragt. Fünf der Agnus-Dei-Zöglinge müßten eigentlich die Schulbank der örtlichen Grundschule drücken. Aber sie sind in Belgien gemeldet und somit dem Zugriff der hiesigen Behörden entzogen. Bruder Rufus, einst Lehrer im Bayerischen Wald, unterrichtet zusammen mit seiner Frau den Nachwuchs der Gemeinde. „Wir orientieren uns am Lehrplan draußen“, sagen beide, denn nach dem sechsten Schuljahr müssen die Junglämmer eine staatliche Prüfung ablegen. Serafin, Joshua und den anderen wird das ABC blockweise nähergebracht. Zwei, drei Monate lang täglich Unterricht, dann längere Pausen und Integration in den Gemeinschaftsablauf. So die verschämte Bezeichnung der permanenten religiösen Berieselung, der auch schon die Kleinsten täglich ausgesetzt sind.

Bruder Rufus, der seine Bekehrung an einem Pfingstsonntag erlebt haben will, „da war ein helles Licht“, hegt keinerlei Zweifel an seinem pädagogischen Konzept: „Es ist bestimmt schwierig für Kinder, aber sie werden den Weg, den wir mit ihnen gehen, in Christus tragen und verstehen lernen.“ Ich versuche mir vorzustellen was passiert, wenn Klein-Joshua eines Tages aus der klösterlichen Enge ausbricht, versehentlich auf einer Dorfkirmes landet und vor einem Riesenrad erstarrt. Ob ihm da noch der frömmelnde Sermon seines Lehrers hilfreich sein wird?

Die persönliche Auseinandersetzung ist nicht mehr gefragt

Unter dem Dachgeschoß auf dem „St.-Josefs-Hof“ lagert die Öffentlichkeitsabteilung der Gemeinschaft. In einem schalldicht isolierten Raum ein Mischpult, technisch hochwertige Aufnahmegeräte und jede Menge Videozubehör. Alles durchweg gehobener Standard und nicht eben billig. Die Spenden an die in Armut und Demut Dienenden scheinen reichlich zu fließen. Bis zu 6.000 Tonbandkassetten werden zur Zeit monatlich kopiert und in alle Welt verschickt: an Pfarrgemeinden, kirchliche Jugendhäuser, Altersheime oder an Private, die die gesammelten Agnus-Dei-Botschaften gezielt verteilen.

Bruder Elija weiß mit der Technik umzugehen, und während seine geistlichen MitstreiterInnen in der Küche die Essenstöpfe auskratzen, bespricht er die Kassette, die vom Wesen und vom Auftrag der Gemeinschaft künden soll. Ist eine Gesangspassage fällig, werden die Brüder und Schwestern mit den schönsten Stimmen kurzerhand in den Aufnahmeraum zitiert. Für Inhalt und Gestaltung der jeweiligen Produktion ist allein Elija zuständig: Bibellesungen, Gottesdienste oder christliche Gesänge, garniert mit immer wiederkehrenden, eindringlichen Ermahnungen: „Übt Demut, Keuschheit und Gehorsam, seid bereit zum Leid.“

Bruder Elija versteht es, die Seelen seiner Brüder und Schwestern zum Kampfplatz der Gefühle zu degradieren, zum Schlachtfeld der von ihm oft zitierten Herzensbedrängnis. Das in sich geschlossene Weltbild wird begierig aufgesogen, gemeinsame Feindbilder stärken den Gruppenzusammenhalt. Was in der Welt vor sich geht, wird bei Agnus Dei nur noch über die Bibel erklärt: Kriege und ökologische Katastrophen, Krankheiten, Seuchen oder gesellschaftspolitische Umwälzungen.

Die persönliche Auseinandersetzung mit komplizierten Sachverhalten ist nicht mehr gefragt. Das hat man früher versucht, und daran ist man gescheitert. Da liegt es schon näher, Ungläubigkeit, Laster und Sünde für alles verantwortlich zu machen. Das erspart den Zweifel und entbindet vom mühsehligen Hinterfragen. Die kritiklose Religiosität als Heilsbringer: Erkennt den Herrn, und die Suchtkranken kommen von den Drogen los, Entwurzelte finden neuen Lebensmut, Todkranke werden wieder gesund, Skeptiker und Zweifler fangen an zu glauben.

Dazu kommt ganz offensichtlich die Überzeugung, daß man auserwählt sei, Licht in die allgemeine Finsternis zu bringen. Das ideologische Rüstzeug vermittelt der von Gott mit der Führung betraute Bruder Elija. Ist er nicht gerade unterwegs, um Kontakte zu befreundeten Gruppen zu intensivieren, bittet er seine Gemeinschaft zur abendlichen Unterweisung. Nach längeren Gebeten in der Krypta versammeln sich dann alle im Gemeinschaftsraum und lauschen andächtig und still den Worten Bruder Elijas'. Diskutiert wird nicht.

Elija läßt ein Tonband mitlaufen, denn auch die Mitglieder des äußeren Unterstützerkreises wollen über das Innenleben der Kernfamilie informiert werden. Schon am nächsten Tag werden Kassettenkopien in Umlauf gebracht, deshalb siezt Bruder Elija seine Brüder und Schwestern während der geistigen Unterweisung. Der insgesamt 60minütige Monolog hat an diesem Abend nur ein Thema: „Anleitung zum geistlichen Kampf.“

Zwar solle man keine Angst haben vor dem Teufel, „aber immer mit seiner Gegenwart rechnen“. „Was glauben Sie“, fragt der Oberhirte in die Stille hinein, „wer hinter liberalistischen Strömungen steckt? — Sie können sicher sein, daß das Inspirationen vom bösen Geist sind.“

Die Zuhörer nicken zustimmend und Elija entläßt seine geistlichen MitstreiterInnen nicht, ohne noch einmal eindringlich auf die Aufgabe der Gemeinschaft Agnus Dei hinzuweisen: „Wir müssen uns aufmachen und mit dem Herrn den Sieg herbeiführen. Wissen Sie, der Hitler ist von Sieg zu Sieg in die endgültige Katastrophe geeilt, und wir Christen eilen von Katastrophe zu Katastrophe zum endgültigen Sieg, von Kreuz zu Kreuz, zum Sieg.“ [Herr, schmeiß Hirn vom Himmel! d.sin]

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