Lebenshilfe statt Feminismusdebatten

■ Mitarbeiterinnen des »Wirkstoff e.V.«, Kontaktstelle für Ostberliner Frauenprojekte, sehen große Verunsicherung bei den Frauen im Ostteil der Stadt/ Immer öfter werden soziale Dienste in Anspruch genommen/ 19 Frauenprojekte seit der Wende

Berlin. »Das kann doch nicht wahr sein. Ich lasse mir doch nicht meine gesamte Qualifikation absprechen«, ereifert sich Claudia Buckwar. Das Abitur hat sie in Ost-Berlin gemacht, eine Facharbeiter-Ausbildung und ein vierjähriges Finanzwirtschaftsstudium an der Humboldt-Uni absolviert. »Und jetzt muß ich mich fragen lassen, ob das denn wohl alles anerkannt wird. Bei uns war doch nicht vierzig Jahre lang die Zeit stehengeblieben.« Claudia Buckwar ist Mitarbeiterin der »Wirkstoff e.V.«, Kontaktstelle für Ostberliner Frauenprojekte und Träger für Frauenqualifizierungsmaßnahmen. 20 Frauen werden in den Wirkstoff-Räumen im Wedding in einem neunmonatigen Kurs zu Projektmanagerinnen ausgebildet. EDV, Buch-, Verhandlungsführung und Rhetorik stehen an jedem Freitag auf dem Programm. Die Maßnahme wird vom Arbeitsamt finanziert.

Die Wende im SED-Staat rief auch die Frauen auf den Plan, etwas an ihrer Situation zu ändern. Noch im November 1989 kamen 1.200 Frauen in der Volksbühne zusammen, um nun selber aktiv Frauenpolitik zu machen und endlich ihre eigenen Vorstellungen durchzusetzen. »Denn so was wie die Fristenlösung war zwar schön, aber eben auch ein Geschenk von oben. Wir konnten uns nie etwas selber erkämpfen«, erzählt Claudia Buckwar. Neben dem Unabhängigen Frauenverband wurden auch die ersten Projekte umgehend gegründet: Frauencafés, Beratungsstellen und Informationszentren. Inzwischen gibt es auch ein Frauentechnikzentrum, eine Lesbenberatungsstelle sowie zwei Frauenhäuser. 19 Frauenprojekte haben sich im Lauf der letzten anderthalb Jahre im Ostteil der Stadt entwickelt. Einige von ihnen erhielten noch eine Anschubfinanzierung vom ehemaligen DDR-Frauenministerium, andere arbeiteten von Anfang an ohne öffentliche Mittel ehrenamtlich. »300 Frauen kommen pro Woche zu uns, viele von ihnen sind massiv psychisch angeknackst und betrachten uns als letzte Rettung«, erzählt Steffi Schild vom Frauenzentrum »Frieda« in Friedrichshain. »Zu feministischen Debatten kommen wir überhaupt nicht. Meistens leisten wir nur konkrete Lebenshilfe, und das ohne Gelder.« Die Begleitung zum Sozialamt gehört für die Mitarbeiterinnen ebenso zum Alltag wie Hilfestellung bei Bewerbungen, Rechtsinformationen und psychische Seelsorge. Die zuständige Frauensenatorin Christine Bergmann will insbesondere Qualifizierungsmaßnahmen sowie Anti-Gewalt-Projekte fördern. »Und wo bleiben die sozialen Dienste?« fragt Claudia Buckwar.

Als »Verliererinnen der Einheit« betrachten sich viele. Die Benachteiligung von Frauen nimmt nach ihrer Beobachtung seit der Wende ständig zu. Frauen werden zuerst entlassen, die Weiterbildungsmaßnahmen sind oft nur auf Männer zugeschnitten. Die Verunsicherung durch das neue Gesellschaftssystem ist allerorten zu spüren. »Was hat sich denn seit der Wende verbessert?« erregen sich die Wirkstoff-Mitarbeiterinnen. »Der Paragraph 218 soll eingeführt werden, die Kindergärten schließen, und das Frauenarbeitsrecht ist auch schlechter.«

Neben Qualifizierung, Kinderbetreuung und Beratungsangeboten ist das Grundanliegen der Frauen oft ein ganz anderes: »Wir müssen das Selbstbewußtsein der Frauen stärken, sie motivieren, sich in diesem neuen Gesellschaftssystem zurechtzufinden.« Denn in diesem Chaos von neuen Strukturen bleibt oft zuerst einmal das Selbstvertrauen auf der Strecke. »Viele Frauen fühlen sich absolut nicht anerkannt. Das ist auch kein Wunder. Man sieht es ja auch an den Projekten. Über die Hälfte der Mitarbeiterinnen haben einen Hochschulabschluß. Und aus dem Westen werden wir oft genug skeptisch angeguckt: Ob die das überhaupt können?« 1.500 Frauen aus Ost-Berlin nutzen wöchentlich das Angebot der Zentren. Und es werden immer mehr. Über das Weiterleben und die Finanzierung wird erst in den kommenden Wochen entschieden — die allermeisten der Projekte haben noch keinen positiven Bescheid. Aber, so fragt Claudia Buckwar selbstbewußt: »Wer soll das denn alles auffangen, wenn wir es nicht machen?« Jeannette Goddar