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Die Berliner ließ die Bonner Debatte kalt

■ Auf dem Ku'damm interessierten Musikvideos die Zuschauer mehr als die Ausstrahlung aus dem Bundestag/ Nur 400 Menschen demonstrierten gegen eine »Machtzentrale Berlin«/ Eine Kundgebung pro Berlin kam gar nicht erst zustande

Berlin. Die von den Medien beider Städte zur nationalen Schicksalsfrage hochstilisierte Entscheidung »Bonn oder Berlin« berührte kaum jemanden in Berlin. Der Kurfürstendamm war am Tag der Entscheidung über den Regierungssitz belebt wie immer. In den Geschäften lief business as usual. Elektrogeschäfte und Kaufhäuser präsentierten die Debatte aus dem Bundestag auf Fernsehgeräten. Doch kaum einer der Kunden blieb stehen, um einem der Redner zuzuhören. Nur vor den Bildschirmen, auf denen Musikvideos liefen, drängelten sich einige Jugendliche vor den Schaufenstern.

Anders als die lokalen Zeitungen, die heftige Breitseiten gegen das »Provinznest Bonn« losließen und vehement den Umzug der Regierung an die Spree forderten, verfolgte die Bevölkerung die Entscheidung unbeteiligt, fast mit Desinteresse. Zu einem Protestzug gegen eine »Machtzentrale« in der Hauptstadt formierten sich gerade mal 400 meist jugendliche Demonstranten. Auf die Idee einer Demonstration für den Regierungssitz Berlin war gar nicht erst jemand gekommen.

Während die Bonner auf Plätzen und Straßen um »ihren Regierungssitz« bangten, sahen die Berliner der Entscheidung gelassen entgegen. »Wir haben sowieso nüscht zu verlieren, warum sollen wir auf die Straße gehen«, meinte Gerhard Baumgärtner. Für den 53jährigen Spandauer besteht zwar kein Zweifel, daß der Regierungssitz nach Berlin gehöre, »aber warum soll ick darum zittern, wenn die da in Bonn sich die Köppe heißreden«.

Für eine »absolute Zeitverschwendung« hielt Gerda Greve die Reden im Bundestag. »Es ist doch müßig, so lange darüber zu streiten«, fand die Blumenhändlerin an der Berliner Friedrichstraße. »Ein klares Entweder-Oder ist jetzt nötig«, meinte auch ihr Kollege Wolfgang Oldendorf. Seiner Meinung nach gebe es wichtigere Dinge zu diskutieren. »Und die Entscheidung für oder gegen Berlin muß jetzt schnell vom Tisch«, fügte er hinzu, »eine weitere Verzögerung wäre schädlich für die Stadt.«

Begeisterung kam auch bei Elisabeth Richter und Frank Schöbel nicht auf. »Klar, wir sind für Berlin, damit hier endlich Geld fließt und Arbeitsplätze geschaffen werden«, sagten die beiden Ostberliner Studenten. Demonstrieren würden sie deshalb aber noch lange nicht. Für die Berlin- Gegnerin Helga Saße hingegen stand es fest: »Wenn die Kampfabstimmung für Berlin ausfällt, dann hau‘ ich ab aus der Stadt. Das wird hier doch alles viel zu voll und teuer, und die Typen aus Bonn möchte ich nicht vor meine Nase gesetzt bekommen.«

Alles schien gestern seinen gewohnten Gang zu gehen. Der Betrieb vor dem Rathaus Schöneberg war wie an allen anderen Tagen. Nennenswerte Vorkommnisse oder Aktionen konnte auch die Polizei nicht melden. »Es ist alles ruhig, lediglich die Fahrzeugkolonnen der KSZE- Delegationen belasten die ohnehin schon vollen Straßen der Stadt«, sagte ein Polizeisprecher.

Auch Parteien, Verbände und Initiativen hielten sich zurück. »Wir warten erst die Entscheidung ab«, hieß es in den Pressestellen. Von Party-Stimmung war nichts zu spüren. Lediglich der Sender Freies Berlin (SFB) wollte am Abend mit dem Berlin-Song Millionen Herzen als Videoclip noch einmal für die Stadt werben. »Der Spot wird nicht nur in ganz Deutschland ausgestrahlt, angefordert haben ihn sogar die Japaner und die britische Fernsehanstalt BBC«, meinte SFB-Pressesprecher Detlef Korus. dpa

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