„Die Ossis halten doch nur die Hand auf“

200 Obdach- und Besitzlose trafen sich zum „Berberkongreß“ in Uelzen/ Vier Tage Schwelgen in Solidaritätsgefühlen und Medieninteresse, eine Bewegung formierte sich nicht/ Neue deutsch-deutsche Feindseligkeit verbreitet sich auch unter den Männern von der Landstraße  ■ Aus Uelzen Birgit Rambalski

Auf einer Bank neben dem Bauamt sitzt einer mit Plastiktüte und Bierdose in der Hand. Will der auch zum Kongreß? Vielleicht. Ob ich ihn frage, wo...? An den Litfaßsäulen findet sich jedenfalls kein Plakat, kein Veranstaltungshinweis, wo der Berber- und Obdachlosenkongreß stattfindet, der vier Tage lang hier in Uelzen an der Lüneburger Heide abgehalten werden soll. Auf der anderen Straßenseite: ein alter Mann mit zerknittertem Sonnenhütchen, betrunken. Kongreßteilnehmer oder Bürger?

Lautes Lachen tönt aus einer Gasse. Es ist Weinfest rund ums Rathaus. Schon am Mittag hocken die Bürger und Bürgerinnen, kichernde Gymnasiasten mit ihren Schulmappen vor Weingläsern und Käsestangen. In diesem Dunstkreis suche ich weiter nach den Teilnehmern des Vagabundenkongresses.

Da sind sie! Ein Grüppchen zieht lautstark spaßend durch die Tischreihen. Die Männer tragen das Zeichen der Landstraße am Revers: zwei Pfeile durchbohren einen Kreis, was soviel heißt wie „die Bewohner sind uns feindselig gesonnen“. Die fünf flachsen mit der Weinverkäuferin, reichen fünf Mark über den Tresen: Was denn, nur ein Sandwich gibt's dafür? Oder ein Glas Wein? „Nee, dann nicht.“ Sie ziehen weiter mit ihrem Geldstück, schäkern mit dem Uhlenköper-Denkmal, das in der Fußgängerzone zwischen Rathaus und Kirche steht. Es stellt zwei bronzene Gestalten dar, die eine Münze ins Leere halten. Die Männer bieten der Plastik lauthals ihr Fünfmarkstück zum Tausch. Verstohlen, mit versteinerten Gesichtern beobachten die weintrinkenden Uelzener das seltsame Spiel.

Von den Schäkerern erfahre ich jetzt endlich, wo der Kongreß stattfindet: am Wasserturm, zwei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Dort sitzen sie draußen im Gras oder oben im Turm um einen runden Konferenztisch versammelt. Einer mit Schlapphut spielt Gitarre und singt: „Ja ich bin Berber und ich lebe auf der Straße“, die andern gröhlen den Refrain. Der Musiker heißt Volker, ist mit Hund Ringo aus Konstanz angereist und gilt als der Udo Lindenberg unter den Berbern. Seit über zehn Jahren ist er als Straßenmusiker unterwegs.

Zweihundert Berber, Obdach- und Besitzlose, aber auch sogenannte „Kunden“, also Menschen, die Wohnungen haben und den Wohnungslosen helfen, sind zm Kongreß nach Uelzen gekommen. Dreihundert hatten an der Eröffnungskundgebung auf dem Marktplatz teilgenommen. Ein Bruchteil. Auf rund acht- bis neunhunderttausend Menschen wird die Zahl der Obdachlosen in der Bundesrepublik geschätzt. Eine offizielle Statistik gibt es sowenig wie eine Lobby. („Von uns kann doch keiner Stimmen erwarten. Wir gehören ja zu keinem Wahlbezirk“, sagt einer.)

„SPDler und Kirchenleute haben pflichtbewußt dabeigestanden“, erzählt ein Sozialpädagoge, der sich die Kundgebung angesehen hat. „Die Forderungen der Leute sind bei denen aber gar nicht angekommen“, glaubt er. Von den Medien waren vor allem Funk und Fernsehen bei dem spektakulären Ereignis vertreten. „Wenn wir es nicht mehr schaffen, gefilmt zu werden, dann sind wir wirklich gefilmt von dieser Gesellschaft“, meint Volker, der Barde.

Eine positive Presse wollten sie für ihren Kongreß. Deshalb waren sie auch froh, daß alles friedlich verlief und keiner aus der Rolle fiel. Zur Kundgebung in der Stadtmitte hatten die Berber sogar den Müll von den Bürgersteigen in Uelzen demonstrativ zusammengesammelt.

„Wir wollen hier in Uelzen, wo die Stadtverwaltung erst einmal den Austreibungsparagraphen auf Eis gelegt hat, versuchen, den Grundstein zu einer Bewegung zu legen, die helfen soll, das zu erlangen, was vielen unserer Bürger genommen wurde oder was sie noch nie hatten: ein menschenwürdiges Leben!“ Werner Seitschek, engagierter Bürger in Uelzen und als „Willy Drucker“ Mitorganisator des Berber- Kongresses in seinem Wasserturm, verkündete als Hauptredner das Ziel des Treffens. „Wir wollen nicht an den Rand der Gesellschaft, wir sind ein Teil von ihr“, betont dann auch Volker im Kreise seiner Kollegen. Ins Licht von RTL und Flittersendern, die nach Uelzen gekommen sind, passen sie nicht. „Wir passen nur in die Realität.“

Volker stimmt wieder den Berber- Blues an: „Wir sind auch Trinker, sonst würden wir's nicht schaffen...“ Am Eingang zum Wasserturm wird Büchsenbier verkauft: gewinnbringend. Mit dem Erlös soll für „Willy Drucker“ ein Abschiedsgeschenk gekauft werden. Für eine goldene Taschenuhr hatte die Sammlung am Vormittag schon gereicht. Doch der, der die Uhr besorgte, ist mit ihr durchgebrannt. „Das gibt 'ne Jagd“, nicht nur die Berber mit roter Armbinde, die Kongreß-„Ordner“ sind sauer. Auch die anderen kochen vor Wut. „Das Berbertelefon funktioniert schnell“, beteuern sie, „den finden wir.“ Denn Durchreisende kennen sich. In den Sozialämtern und in den Wärmestuben treffen sie sich immer wieder. „Der sollte sich jetzt am besten irgendwo festsetzen.“

„So ein Penner“, schimpft Joschi, der sich „rebell on the road“ auf die Jacke geschrieben hat. Joschi versteht sich als „richtiger Berber“ und hat einen strengen Ehrenkodex: „Sei zu jedermann freundlich, er könnte morgen dein Kunde sein“, ist das erste von fünf Berbergesetzen. Kinderficker, Vergewaltiger, Mörder, Rauschgifthändler und Fixer werden unter Berbern nicht geduldet. Klauen ist tabu — es sei denn, es geht nicht mehr anders. Schlafplatz muß sauber hinterlassen werden und, so sagt es die letzte der fünf Regeln, „bleibe nie länger als zwei Tage in einer Stadt“.

Für Joschi und Rainer, die sich beim Berbertreffen in Uelzen ein geschenktes Zelt teilen, sind diese Regeln Gesetz. Besonders die „Ossis“, die Obdachlosen aus den neuen Bundesländern, wüßten davon jedoch noch nichts. Die Berber aus dem Osten sind bei ihren Kollegen nicht gern gesehen: „Die halten überall nur die Hand auf.“ Mit Öffnung der Grenzen und der Wiedervereinigung nehme nicht nur der Trend von rechts spürbar zu, sondern machten die „Ossis“ die Gesetze der Straße kaputt, schimpfen die Wessis. Feindseligkeit gegen die zwei Obdachlosen, die aus Bautzen und Potsdam angereist sind, ist auch im Wasserturm spürbar. Die beiden Ossis kamen mit dem Bus an. „Edelberber“ werden sie von den anderen deshalb zynisch genannt und ausgegrenzt: „Wir haben uns Stadt für Stadt herangerobbt, seit wir im Januar von dem Treffen gehört haben.“

Die einen Heimplatz haben, im Warmen sitzen und mal für ein paar Tage nach Uelzen „gaukeln“, liegen in der Berber-Hierarchie ganz tief unten. Genau wie die, die „ihren Arsch nicht fortbewegen“ und ein Leben lang in einer Stadt klebenbleiben, dauernd zum Sozialamt rennen und trotzdem nur ihre Plastiktüte mit Schnaps besitzen. Sie heißen „Stadtratten“ oder „Willys“ in Berberdeutsch. Sie werden von den „echten Berbern“ genauso verachtet wie die „Penner“, die zwar von Stadt zu Stadt walzen, aber auch nur mit der symbolischen Tüte und ohne tiefere Werte: „Die klauen uns die Schlafsäcke, den Seesack, das Eßgeschirr — alles, was sie zu Geld machen können.“

Rainer und Joschi, die beiden Zeltgenossen, sind ein bißchen enttäuscht vom Kongreß: „Ist doch Scheiße, daß viele schon bald wieder abgereist sind.“ Die beiden haben auch mehr auf die gehofft, die ein Manifest erarbeiten wollten. Doch dazu kam es nicht. Es blieb bei allgemeinen Forderungen nach Menschenwürde und fairer Behandlung in den Ämtern. Hauptergebnis des Treffens war dann auch ein Gefühl von Solidarität, das der Anfang einer Bewegung werden könnte.