Schatten der Zuschauer

■ Pauline Oliveros im Künstlerhaus Bethanien

Sie hat kurze, graue Haare und ein offenes Gesicht mit klaren Konturen. Wenn sie auf der Bühne sitzt, entsteht eine dynamische Korrespondenz zwischen ihr und dem Akkordeon, und es gelingt ihr durch die teilweise Verdeckung ihres Körpers mit dem Instrument, die Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Gestalt aufzuheben. Gründerin des »Tiefen Hörens« nennt sich die Amerikanerin Pauline Oliveros, die mit neun begann, das Akkordeon zu spielen, und die von den Freunden der Guten Musik nach Berlin eingeladen wurde. Am Donnerstag spielte sie im Künstlerhaus Bethanien, am Sonntag trat sie in Potsdam auf, bei einer vom Kunstverein Gianozzo organisierten Tagung, die sich dem Experimentellen in Künsten und Wissenschaften verschrieben hat. Passend zum Tagungstitel Gefährlich leben rieselte zu Oliveros meditativen Klängen leise der Rost herunter, von der Kuppel im Großen Refektorium, in dem schon Einstein gearbeitet hat.

Wie beim Zeichnen der einfache Strich eine der schwierigsten Übungen ist, so arbeitet Pauline Oliveros an der Strichführung des Tones. Die Töne werden gesetzt; jeder Abstand, jede Überlagerung muß im Augenblick des Spielens korrekt getroffen werden, da die Komposition sonst auseinanderzufallen droht. Es muß ein komplexes Ganzes entstehen, das die Zuhörenden einhüllt und nicht auf Distanz hält. Sie spielt lang angehalten dissonante Akkorde, die nie aufgelöst werden, nie übergeführt werden in harmonische Strukturen. Es gibt im klassischen Sinne keinen Rhythmus, der Rhythmus entsteht, wenn überhaupt, durch den Dialog der Dissonanzen, die beim Akkordeon durch Melodie- und Baßseite unabhängig voneinander hergestellt werden können. Sobald die Spannung im Raum gehalten wird, setzt Pauline Oliveros in die sich überlagernden dissonanten Akkorde immer wieder einzelne reine Töne, die durch ihre Klarheit herausfallen wie die Farbe Rot unter Braun, Siena, Grau, Umbra und Schwarz.

Pauline Oliveros stellt einen Klangraum her, in den auch die Personen, die zufällig im Raum sind, einbezogen werden. Sie spielt den Raum als geräuschtragende Vielfalt, versetzt ihn in eine Klanghülle korrespondierender Schwingungen, denen sich zu entziehen schwer möglich ist, solange man Teil des Raumes ist. Als Ergebnis ihrer Musik entstehen Sequenzen musikalischer Beschreibungen, die nicht mehr weiter zerlegt werden können, wie Kuppel, Arkade, Pfeiler oder Schatten der Zuschauer. Als Meisterin der klanglichen Meditation hüllt sie den Raum ein, bis die Unruhe des Zuhörens darin aufgeht. In den letzten zwanzig Jahren sind über 30 Stücke mit dem Titel Deep Listenting entstanden. Die Partitur des Stücks ist das Hören, ist das Wahrnehmen von sich und anderen. Pauline Oliveros gilt als eine Pionierin der amerikanischen neuen Musik neben John Cage oder Terry Riley. Seit Anfang der sechziger Jahre arbeitet und experimentiert sie mit Improvisation, Meditation, elektronischer Musik, mit mythischen und rituellen Konzepten. Die Klänge, die sie mit der Stimme erzeugt, erhalten durch eine ausgefeilte Technik, indem sie den Luftstrom mit der Nase blockiert und öffnet, verschiedene Klangqualität. Dann jedoch fängt sie mit ihrer klaren, tiefen Stimme an zu sprechen, erzählt von Wiedergeburt und science-fictionalen Übersinnlichkeiten. Würde sie undeutlich sprechen, gelänge es, ihre tiefe Stimme als zusätzliches tonales Medium in den Kontext der Musik einzubauen, so aber stört die Lächerlichkeit des Textes über ihre Eltern, die der laute Puls sind und von denen sie auf einer Radiowelle 50 Millionen Jahre zurückgesündigt wurde. »Very californian« kommentierte eine Zuhörerin.

Die in Texas geborene Multikünstlerin hat jahrelang als Professorin an der Universität in San Diego in Kalifornien gelehrt, ist Trägerin des Schwarzen Gürtels in Shotokan-Karate und hat viele Preise erhalten, darunter auch 1977 den Beethoven- Preis der Stadt Bonn für ihre Komposition Bonn Feier. Das aber ist ja jetzt auch vorbei, und es bleibt bloß das gleich ausgesprochene Wort »bonfire«, das nur noch »Feuer, das entsteht, wenn Abfall verbrannt wird«, aber auch »Freuden- und Signalfeuer« bedeutet.

Waltraud Schwab