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Marseille nur den Le-Penesen!

Keine französische Stadt hat eine so große ausländische Gemeinde wie Marseille — und nirgendwo ist die Front National so stark/ Die Rechtsradikalen haben für die Einwanderungspolitik populäre Abschottungsrezepte  ■ VON OLAF PREUSS

Zwei Stunden hat die Front National die Canebière gut in der Hand. Heute defilieren die Franzosen, die Frankreich ganz für sich allein haben wollen, über Marseilles Prachtstraße: „La — France aux — Francaises — Mar — seille — aux — Marseill — eses“, rufen sie in Sprechchören, und gleich danach ihr politisches Fernziel: „Le — Pen — Pré — si — dent! Le — Pen — Pré — si — dent!“

Weit ist der Weg ins Amt des französischen Staatspräsidenten, das die Aktivisten ihrem Vorsitzenden Jean- Marie Le Pen so sehr wünschen. Bevor der „Chef“ in den Elysée-Palast einzieht, müssen die Fußtruppen wohl noch oft über die Straßen marschieren, um Frankreich den rechten Weg zu weisen. Von der Place Sadi Carnot, wo das Regionalbüro die Front National sitzt, ziehen die alten und die jungen Kämpfer zur Kirche St. Michel, zur Statue der Heiligen Johanna von Orléans. Die Heilige Jungfrau wird von der „Bewegung“ als Symbolfigur vereinnahmt. Johanna, die erste französische Patriotin, hat das Land im Hundertjährigen Krieg gegen die englischen Besatzer verteidigt. Dafür wurde sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Zum Gedenken stapeln die Funktionäre der Bewegung bei jeder Gelegenheit Kränze vor der Nationalheiligen.

In einer ordentlichen Kolonne, vom Ordnungsdienst der Front National bewacht, ziehen die Demonstranten über die Canebière. „Oleeoleoleoleee“, singen sie, denn Olympique Marseille ist gerade französischer Fußballmeister geworden. Der Beifahrer des Lautsprecherwagens unterbricht die französische Volksmusik und erinnert die Marschierer über Mikrofon daran, daß dies eine politische Veranstaltung ist: „France — Le Pen — Li — ber — té!“

Die älteren Demonstranten, Weltkriegsveteranen, Indochina- und Algerienkämpfer, schieben stolz ihre Ordensgehänge vor sich her. Die jüngeren tragen zwar keine Uniformen, schwenken dafür aber umso eifriger die Fähnchen mit dem Lothringer Kreuz und die kleinen, handlichen Trikoloren. 20, 25 Jahre alt sind sie und fest davon überzeugt, daß „die Straße den Franzosen“ gehört, wie es als Motto auf ihrem Transparent steht. Die, für die an diesem Tag kein Platz ist auf der Straße, stehen am Rand und sehen zu. Algerier und Marokkaner, Tunesier und Schwarzafrikaner — Marseilleser wie ein Teil der Demonstranten auch, nur leider unerwünscht bei denen, die gerade vorbeimarschieren. Ein dicke Nordafrikanerin protestiert auf dem Bürgersteig. Von der Straße kommt die Antwort: „Du wirst deine Abmagerungskur schon noch kriegen!“

Aus ganz Südfrankreich hatte die Front ihre Anhänger zur großen Parade an diesem Nachmittag zusammengerufen, 3.000 waren gekommen. „Zehn Jahre Mitterrand — zehn Jahre Korruption und politische Skandale sind genug!“ steht auf den Versammlungsplakaten. Aber natürlich geht es weniger um Mitterrand — vor allem geht es um die dunkelhäutigen Zuschauer am Straßenrand, die man politisch so dringend braucht, um ihre Abschiebung fordern zu können.

Eine Woche vor der Demonstration hatten die Aktivisten von „Marseille Fraternité“ in einem Saal an der Canebière zusammengesessen und beraten, wie man auf die Kolonne der Front National antworten könnte. Zwei Stunden hatte es gedauert, bis sich die Sozialisten, Kommunisten, Gewerkschafter und Mitglieder diverser linker Grüppchen auf einen gemeinsamen Text für ein Flugblatt einigen konnten. Aber eine Woche später kommen nur einige Dutzend Aktivisten zur Demonstration gegen den „gehässigen, kleinen Politrentner“ Megret zusammen. Die Canebière gehört den Nationalisten.

Vielen Ausländern in der Stadt wird das ganz recht gewesen sein. Sie halten sich lieber zurück, wenn die Front marschiert. „Wir werden nichts unternehmen, was diese Leute provozieren könnte“, sagt Salah-Eddine Bariki, der Chefreakteur von 'Radio Gazelle‘. Von der ruhigen Art verspricht sich die Redaktion in der Rue Tapis Vert mehr als von politischen Raufereien. 1981 gründeten junge Nordafrikaner aus den nördlichen Vorstädten Marseilles mit einigen Lehrern einen nichtkommerziellen Sender. „Wir fanden in den lokalen Medien nie Beachtung. Also fingen wir an, über uns selbst zu sprechen“, sagt Bariki. Mittlerweile hat 'Radio Gazelle‘ ein Stammpublikum in der Stadt, unter Ausländern ebenso wie unter Franzosen. Der Sender versteht sich als kulturelle Stimme der Einwanderer in Marseille, das Programm besteht zu einem großen Teil aus Folklore und wird für Minderheiten gemacht. „In Marseille leben etwa 5.000 Madegassen und selbst für sie haben wir ein eigenes Programm“, sagt Bariki. Die Sendungen werden zu 80 Prozent von freien, unbezahlten Mitarbeitern gefüllt, die dafür ihre Musik selbst aussuchen können.

Minderheiten, ausländische „communités“ gibt es zuhauf in Marseille: Nord- und Schwarzafrikaner, Armenier und Vietnamesen, Portugiesen und Brasilianer, Türken und Griechen. Marseille, die Stadt mit dem größten Ausländeranteil unter Frankreichs Städten, hat eine lange Tradition als Ziel von Einwanderern und politischen Flüchtlingen. In diesem Jahrhundert gab es kaum einen großen Krieg, den man nicht auch in Marseille gespürt hätte. Nach dem Völkermord der Türken kamen 1915 die Armenier, während des spanischen Bürgerkriegs zahlreiche Spanier, während des Zweiten Weltkriegs Flüchtlinge aus ganz Europa, nach dem Algerienkrieg die Algerier und nach dem Fall Saigons 1975 schließlich die Vietnamesen. — „Marseille ist wie ein Mosaik. Fast jeder Einwanderer, der hierher kommt, trifft bereits auf eine nationale Gemeinschaft“, sagt Jean-Louis Marchetti, Kommunist und Mitglied von „Marseille Fraternité“. Die Ausländer organisieren sich und bilden ihre eigenen Viertel. Das Quartier Belsunce zwischen Hauptbahnhof und Canebière ist von einer Altstadt in Tunesien oder Algerien kaum zu unterscheiden: Zuckerbäcker und Teppichhändler, Kramläden und Teestuben, alles ist so eingerichtet wie auf der anderen Seite des Mittelmeers.

150.000 der rund 900.000 Einwohner Marseilles sind Moslems, davon kommen etwa 88.000 aus den Maghreb-Staaten Marokko, Algerien und Tunesien. Längst nicht alle leben nach den Regeln des Koran, vor allem die Jüngeren versuchen sich dem französischen Lebensstil anzupassen. Doch jedes Viertel hat seinen eigenen Imam und seine eigene Moschee. In absehbarer Zeit soll es, geht es nach den Plänen der islamischen Gemeinde, eine Zentralmoschee für ganz Marseille geben. In der Rue Hoche im dritten Arrondissement wollen die Moslems eine Häuserzeile kaufen, um dort ein 3.000 Quadratmeter großes islamisches Kulturzentrum zu bauen. Die sozialistische Stadtregierung hat grundsätzlich bereits eingewilligt. Noch streiten sich die Bauherren, wer wieviel Geld bezahlt und wer den Imam stellt: die Algerier, Tunesier oder Marokkaner.

Das ist ein herrliches Thema für die Front National, die „natürlich gegen die Moschee“ ist, wie Bruno Megret sagt. Schließlich hätte der Bau einen hohen Symbolwert für die Moslems: „Das macht Marseille für sie zum islamischen Terrain.“

Mit der islamischen „Invasion“ läßt sich in Frankreich derzeit gut Politik machen. Die Franzosen diskutieren wieder einmal heftig darüber, ob es nicht an der Zeit sei, jegliche Einwanderung radikal zu stoppen. Die Front National schürt die Angst vor der Überfremdung am gekonntesten. In den südlichen Vierteln von Marseille sind es die wohlhabenden Mittelständler, die die rechtsextreme Partei wählen. Die haben Angst um ihren Wohlstand und lassen sich gern einreden, daß es die Einwanderer sind, die ihn zunichte machen wollen. In Marseilles nördlichen Vorstädten verhelfen die kleinen Angestellten, die Rentner und die Arbeitslosen der Front National zu Rekordergebnissen. Im 13. und 14. Arrondissement im Nordwesten der Stadt, Wohngebieten mit vielen Ausländern, kann sich die Partei auf einen Wähleranteil von mindestens 25 Prozent verlassen. Bei einer Nachwahl zum Europaparlament im November 1989 holte eine Kandidatin der Front National in Marseille 33 Prozent.

Probleme mit der Region haben viele Kinder islamischer Einwanderer. Sie wissen nicht, zu welcher Gemeinschaft sie eigentlich gehören, zur französischen oder der ihres Herkunftslandes. „Die Einwanderer der dritten Generation haben ihre Kultur völlig verloren“, sagt Abdou Banoudi, ein Arabisch-Lehrer am „Haus der Ausländer“ in Marseille.

Doch die vielgepriesene „Integration“ reicht nicht aus, um vernünftige Lebensverhältnisse für die Einwanderer zu schaffem. Die soziale Situation hat sich seit dem Amtsantritt des sozialistischen Präsidenten Francois Mitterrand nicht verbessert, sondern deutlich verschlechtert. „Die Jugendlichen kommen vor allem, weil sie Probleme bei der Arbeitssuche und mit der Ausbildung haben. Zwischen Einwanderern und Franzosen gibt es dabei keinen Unterschied“, sagt die Sozialarbeiterin Yamina Benhenni, die in einem Hochhausviertel im Norden Marseilles arbeitet. Von der steigenden Arbeitslosigkeit in Frankreich sind Gebiete wie die Banlieus von Marseille besonders betroffen. In manchen Vierteln sind 40 Prozent der Jugendlichen arbeitslos.

Die Kinder der Einwanderer konnten sich nicht aussuchen, wo sie leben. Viele Eiwnanderer könnten es, und sie entscheiden sich für Frankreich. Rund 200.000 Einwanderer, darunter 80.000 Kinder, kommen jährlich ins Land. Das Innenministerium schätzt, daß sich außerdem 80.000 illegale Einwanderer, „les clandestines“, jährlich in Frankreich niederlassen. Sie kommen mit einem Touristenvisum und bleiben. Für die meisten, vor allem aus Afrika, ist Marseille das Tor nach Frankreich.

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