: Wahlen in der Wüste
Letzte Chance für die Frente Polisario: In der marokkanisch besetzten Westsahara bereitet die UNO für Januar 1992 eine Volksabstimmung vor ■ Von Barbara Debus
Als Namibia 1989/90 unter UNO- Aufsicht die südafrikanische Fremdherrschaft abschüttelte, nannten westliche Medien das Land aufatmend „die letzte Kolonie Afrikas“. Das war voreilig. Denn außer Namibia wartete mindestens eine weitere „letzte“ Kolonie auf die UNO und die Dekolonisierung. Ein Wüstenland im Nordwesten des Kontinents: die Westsahara, seit 1976 vom waffenstarrenden Nachbarn Marokko besetzt und genauso lange von der Befreiungsbewegung „Frente Polisario“ guerilla-taktisch umkämpft.
Die Vergeßlichkeit der Weltöffentlichkeit macht den Sahrauis zu schaffen. Denn die Zukunft ihrer „letzen“ Kolonie steht auf Messers Schneide: Für Ende Januar 1992 plant die UNO in der Westsahara ein Referendum. Eine noch nicht genau bezifferte Anzahl sahrauischer Frauen und Männer soll darüber abstimmen, ob aus der Westsahara eine Provinz Marokkos oder ein unabhängiger sahrauischer Nationalstaat werden soll. Doch sind die Einzelheiten des Referendums noch so wenig abgeklärt, daß den meisten Sahrauis beim Gedanken daran „der Angstschweiß ausbricht“, wie der sahrauische Journalist Salek Mohammed (Name von der Redaktion geändert) gegenüber der taz bekennt. Militärisch war die Frente Polisario nicht über ein Patt hinausgekommen. Salek Mohammed: „Das Referendum ist unsere einzige Chance. Es geht um Leben oder Tod.“
Die sahrauische Bevölkerung wird auf 500.000 Menschen geschätzt. 170.000 flüchteten vor den marokkanischen Invasoren in Algeriens Wüste, wo Funktionäre der Frente Polisario in vier selbstverwalteten Zeltstädten das Überleben straff organisieren. In der Westsahara leben nur noch rund 40.000 Sahrauis, alle übrigen wohnen teils freiwillig, teils zwangsweise in Marokko oder benachbarten Ländern.
Wahlbeeinflussung befürchtet
Die marokkanische Seite gibt sich siegessicher. Farhat Bouazza, Presseattaché der marokkanischen Botschaft in Bonn, prognostiziert „70 bis 80 Prozent“ promarokkanische Voten. Die Sahrauis in den Flüchtlingslagern am Rande der algerischen Wüste stünden mehrheitlich nicht hinter ihrer Führung, der Frente Polisario. Der Bonner Presseattaché versicherte, Marokko werde selbstverständlich jedes Ergebnis akzeptieren: „Schon 1985 hat König Hassan vor der UNO erklärt: ,Wenn wir das Referendum verlieren, werde ich der erste sein, der einen Botschafter nach Al-Aaiun (Hauptstadt der Westsahara — d. R.) schickt.‘“
Der sahrauische Journalist Salek Mohammed, Mitglied der Polisario, formuliert seine Prognose so: „Wir haben nicht 17 Jahre lang umsonst gekämpft. Es gibt keine Familie, die nicht jemanden im Krieg verloren hat. Das war kein Sport. Ich gehe davon aus, daß alle Sahrauis für die Unabhängigkeit stimmen werden.“ Dann schränkt er ein: „...wenn die Wahl unter freien Bedingungen stattfindet.“ Beunruhigt ist er wie viele Sahrauis darüber, daß sich 65.000 marokkanische Soldaten während des Referendums in der Westsahara aufhalten dürfen, genauso wie weit über hunderttausend marokkanische SiedlerInnen. Er befürchtet massive Wahlbeeinflussungen. Mit der Situation in Namibia sei das Referendum in der Westsahara nicht zu vergleichen, denn die sahrauische Bevölkerungsmehrheit befinde sich außerhalb des Landes und es gebe innerhalb der Westsahara nach 16 Jahren brutaler marokkanischer Besatzung keine unabhängigen sahrauischen Strukturen mehr, auf denen die Wahlkampfarbeit und die Wahlbeobachtung aufbauen könnte. Auch sei bisher nicht geklärt, wie die Sahrauis rechtzeitig vor dem Referendum aus den Flüchtlingslagern in ihre Heimat gelangen könnten, ob ihre Sicherheit garantiert sei, ob sie genug zu essen vorfinden würden. Denn das UNO-Flüchtlingswerk habe noch nicht genug Mittel für die humanitäre Hilfe zusammengebracht. Und die UNO werde mangels angemessener finanzieller Ausstattung nur 1.700 Blauhelme entsenden können, um bewaffneten Übergriffen vorzubeugen. Unklar sei auch noch, ob tatsächlich alle Sahrauis aus den Lagern — auch die ohne Stimmrecht — noch vor dem Referendum zurückkehren dürften.
Außer dem marokkanischen Feind macht der „Frente Polisario“, der Ein-Parteien-Führung der Sahrauis, noch etwas anderes zu schaffen: das eigene Volk, das unüberhörbar nach Demokratie ruft. Vom 17. bis 19. Juni tagte ein „Außerordentlicher Volkskongreß“ in den Flüchtlingslagern. Der Kongreß löste das siebenköpfige „Exekutivkomitee“ der Frente Polisario, seit 17 Jahren an der Macht, auf. Gleiches geschah dem zweitmächtigsten Gremium, dem „Politbüro“. Statt dessen wurde ein „Nationalrat“, eine Art Exil-Parlament gewählt, in dem 73 stimmberechtigte Mitglieder sitzen — darunter allerdings auch die Ex-Mitglieder von „Politbüro“ und „Exekutivkomitee“. Salek Mohammed über die Opposition von unten: „Die Menschen wollen nicht, daß es bei uns — so wie bei anderen Befreiungsbewegungen — nach der Unabhängigkeit mit dem Ein-Parteien-System weitergeht.“
„Marokkanische Spione“ willkürlich verhaftet
Die alte Frente-Führung ist für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Landsleute wurden sechzehn Jahre lang willkürlich als „marokkanische Spione“ verhaftet und in abgelegenen Gefängnissen gefoltert. Mißgunst, persönliche Feindschaften, Spionageparanoia genügten, um eine BewohnerIn der Partei-beherrschten Zeltstädte hinter Gitter zu bringen.
Eine sahrauische Untersuchungskommission hat diese Vorfälle nun aufgrund von Protest-Demonstrationen genauer untersucht. Der Kommission zufolge haben Mitglieder der Frente Polisario 318 Verhaftungen widerrechtlich veranlaßt — verbunden mit „einigen Todesfällen und Mißhandlungen“. Die 2.000 Teilnehmer des „Außerordentlichen Volkskongresses“ beschlossen, die Gefangenen zu rehabilitieren und ihnen den gleichen Status wie Kriegsversehrten einzuräumen. Eine weitgehende Entscheidung, zu der sich die SWAPO im unabhängigen Namibia bis heute nicht hat durchringen können. Um Wiederholungen unmöglich zu machen, soll ein unabhängiges Gerichtssystem aufgebaut werden.
Die westdeutsche Sahara- Freundschaftsgesellschaft hatte nur durch einen Zufall und erst im Frühjahr 91 von den Menschenrechtsverletzungen erfahren. Die Nachricht löste ungläubiges Entsetzen aus. Sie sorgte nicht nur für ein böses Erwachen, weil die Existenz der Gefängnisse 16 Jahre lang vor den kritisch solidarischen AusländerInnen geheim gehalten worden war, sondern auch, weil die sahrauischen Flüchtlingslager in vielem als Musterbeispiel galten und gelten: Spenden kamen immer an; niemals wurden Hilfsgüter durch Korruption abgezweigt. In sechzehn Jahren hatten die Sahrauis aus dem Nichts Kindergärten, Schulen, Alphabetisierungszentren, Gärten, Werkstätten, Krankenstationen und so weiter aufgebaut, die den auswärtigen BesucherInnen mit berechtigtem Stolz vorgeführt wurden. Der sahrauische Außenminister Mohammed Sidati versicherte vor wenigen Tagen westeuropäischen Solidaritätsgruppen in Brüssel: „Wir haben den festen Willen, bei den Menschenrechtsverletzungen absolut offen zu sein und dieses schlechte Kapitel zu beenden.“
Die bundesdeutsche „Gesellschaft der Freunde des sahrauischen Volkes“ ruft auch weiterhin zur kritischen Solidarität mit dem sahrauischen Volk auf. Axel Rüst von der Sahara-Freundschaftsgesellschaft: „Das Referendum findet unter schwierigsten Bedingungen statt, Marokko verfügt über die Hoheit in der Westsahara, über Militär, Polizei, Medien und Administration. Man muß die Sahrauis während dieser letzten Etappe unterstützen.“
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