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FUTURZWEI

Armin Nassehi im taz FUTURZWEI-Gespräch Guter Protest, böser Protest?

Protestexperte Armin Nassehi über Luisa Neubauer, die Grünen, Pegida, Anti-Atom – und warum alle Protestler am Ende unzufrieden sind.

Bild: Hans-Günther Kaufmann

taz FUTURZWEI: Herr Professor Nassehi, bei den Demos gegen die Corona-Politik wurde der vorgeschriebene Sicherheitsabstand nicht eingehalten. Was sagen Sie als Protestexperte dazu?

ARMIN NASSEHI: Die Demos haben unter anderem zum Gegenstand, dass die geltenden Schutzmaßnahmen und -regeln zum Teil Unsinn seien. Zugleich sind Symbole wie wie Abstandhalten oder Maske tragen genau die Punkte, mit denen man provozieren kann. Es ist wie eine Bestätigung und Legitimation für diese Leute, wenn dann jemand hingeht und sagt „Moment, ihr haltet ja den Abstand gar nicht ein“, denn dann können sie sagen: „genau, darum geht es uns nämlich auch“. Grundsätzlich war erwartbar, dass Menschen deshalb auf die Straße gehen würden. Ich hatte prognostiziert, dass sich die Wahrscheinlichkeit von Protest erhöht, sobald mit dem Einstieg in Lockerungen des Lockdowns Alternativen sichtbar werden. Das haben wir jetzt.

Wenn Linksliberale protestieren, ist das für uns „ziviler Widerstand“, bei dem man die Gesetze um der guten Sache willen überdehnen muss. Beim Corona-Politik-Protest sagten wir, das Übertreten der Gesetze ist völlig unverantwortlich. Ist das eine angemessene Unterscheidung?

Genau genommen nicht. Das Dilemma wird bei den Anti-Rassismus-Demonstrationen nach dem Tod von George Floyd sichtbar: Abstandsregeln und Corona-Prävention verschwanden hinter der unbestrittenen Dringlichkeit und Wichtigkeit des Protestthemas. Was die sogenannten Hygiene-Demos angeht: Bei Konflikten sucht man Antipoden. Bei den Einen ist es jetzt das genaue Einhalten von Regeln oder Dingen, die mit dem Leben konnotiert sind. Bei den anderen ist es genau das Gegenteil, nämlich da zusammenzukommen, wo man es nicht darf. Das ist das Tolle an der Situation:  Die Demonstration ist schon die Übertretung dessen, wogegen protestiert wird. Das kann man nicht besser erfinden.

Wir haben im Fall der gesundheitsbedingten Einschränkungen auf der einen Seite eine Form von Übereifrigkeit der Regeleinhaltung, die bis ins Denunziantentum kippt, auf der anderen antidemokratischen Protest, aber die große Mehrheit sind doch Bürger, die Ausnahmeregeln einfach für vernünftig gehalten.

Abgesehen von den völlig durchgeknallten Verschwörungstheorien, die bei solchen Gelegenheiten immer aus der Versenkung wieder auftauchen, haben die Leute das Recht, zu demonstrieren und zu sagen, dass ihnen die Corona-Regulierungen zu weit gehen. Wenn man das Gefühl hat, dass parlamentarische oder auch diskursive Oppositionen außer Kraft gesetzt oder kaum zu hören sind, folgt darauf Protest – ganz unabhängig übrigens davon, ob das zutrifft oder nicht. Was sich da zusammenbraut, hat genau die Motive, die Protest immer hat. Es verläuft sehr parallel zur Flüchtlingskrise. Die Leute behaupten, dass es sowas wie eine kontroverse Diskussion nicht gegeben hat, weswegen man auf die Straße gehen müsse. Das kommt vor allem von rechts. Es scheinen aber auch anthroposophische Wohlstandsverwahrloste oder Impfgegner dabei zu sein, die ins Grüne Milieu passen.

Sie prognostizierten, der Coronapolitik-Protest könnte künftig eine neue Dimension annehmen.

Anfangs sah es so aus, aber es scheint keine wirkliche Kraft zu entfalten, auch weil sich inzwischen Vieles wieder normalisiert hat. Es hat den Charakter eines weitereren Systemkritik-Protestes, der beweisen will, dass das ganze System korrupt ist.

Protest ist auch oder vor allem Protest gegen fehlende oder schwache Opposition, sagen Sie in Ihrem Buch. Ist das die zentrale Bedingung?

Mich interessiert nicht die Kulturgeschichte von Protest oder die Typologie. Ich will wissen, warum gehen Leute in einer Gesellschaft auf die Straße, in der „nein“ sagen überall institutionalisiert ist, in Gerichtsverfahren, in parlamentarischen Verfahren durch die Opposition, aber auch im öffentlichen Diskurs. Das Nein und der Widerspruch sind sogar rechtlich abgesichert. Und je egalitärer die Kultur, desto größer sind die Möglichkeiten fürs Nein und für Kritik. Protest in Form von Bewegungen, von außerparlamentarischem Protest, von Demonstrationen usw. entsteht dort, wo Menschen das Gefühl haben, dass die institutionellen Nein-Stellungnahmen nicht ausreichen oder scheitern. Man kann es derzeit in den USA sehr deutlich beobachten: Die Proteste nach den schrecklichen Ereignissen in Minneapolis zeigen das deutlich. Es sind nicht nur Proteste gegen die Trump-Administration, sondern vor allem dagegen, dass die Mechanismen der Kritik und der Durchsetzung von Rechten innerhalb der staatlichen Institutionen für Schwarze kaum möglich ist. Genau genommen protestiert der Protest also gegen die Opposition, wenn diese zu schwach ist.

Das Nein ist eine Errungenschaft der liberalen Demokratie?

Ja. Aber obwohl die Gesellschaft das alles ermöglicht, Opposition, Kritik, wissenschaftlichen Meinungsstreit, scheint es für viele das Gefühl zu geben, dass die institutionalisierten „Nein-Stimmen“ in den Verfahren nicht ausreichen, um ihr Anliegen stark zu machen - und deswegen gehen sie auf die Straße. Das galt für die 68er, für Pegida, für Fridays for Future. Bei Protest geht es darum, ein Thema in der Gesellschaft zu etablieren. Der Erfolg ist nicht, dass man seine Forderungen durchsetzt, sondern dass die Mechanismen der Gesellschaft, die wir kennen, sich zum Thema verhalten müssen, nachdem sie es vorher nicht mussten. Ich finde, zum Beispiel, dass Fridays for Future schon längst ökologisch mitregiert.

Steile These.

Sie regieren mit, weil man sich dazu verhalten muss. Das Klimapaket war eine Reaktion darauf. Und auch der letzte Autogipfel musste sich dazu verhalten, ob es eine Form von ökologischen Anreizen gibt für die Förderung der Autoindustrie. Das hätte es vor kurzem noch nicht gegeben und ist ein Ergebnis der Proteste. Das jüngste Konjunkturprogramm trägt auch die Handschrift dieser Proteste, auch wenn die Protestierenden natürlich nie damit zufrieden sein können.

Und Pegida?

Pegida regiert bei der Migrationspolitik mit. Vieles, was die Bundesregierung gemacht hat, hätte es ohne die Angst vor den Pegida-Protesten und Ähnlichem in dieser Form nicht gegeben.

Gilt das Mitregieren demnach auch für Corona-Politik-Protest?

Ja, einige der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen werden dementsprechend auch mitregieren. Vor allem im Bezug darauf, wie man in nächster Zeit mit Rückschlägen, wieder steigenden Infektionszahlen und Öffnungsszenarien umgeht.

Sie sagen, dass Protest niemals sein Ziel erreicht. Andererseits verändert er die Lage. Was kann denn nun Protest und was kann er nicht?

Protest ist nicht dafür da, dass die Protestierenden zufrieden sind, sondern hat offenbar eine gesellschaftliche Funktion. Er ist der Vetospieler, den es eigentlich nicht geben kann, der aber in der Lage ist, die gesellschaftlichen Diskurse mitzuverändern.

Der Satz ist in Ihrem Buch zentral. Warum kann es den Vetospieler eigentlich nicht geben?

Naja, wer soll das sein? Der Staat ist es nicht. Die Gesellschaft ist es nicht, sie reagiert mit den eigenen Mitteln auf das, was der Staat sagt. Das staatliche Durchregieren ist eine radikale Ausnahme, wie wir in der Corona-Krise gesehen haben. Ein Vetospieler müsste ja in der Lage sein, das gesamte System steuern und konditionieren zu können – die anderen Spieler aber reagieren darauf mit ihren eigenen Ressourcen und Möglichkeiten. Eine gemeinsame Vernunft ist deshalb auch nicht der zentrale Vetospieler. Das Rechtssystem ist es auch nicht. Ich hatte mal spaßeshalber in einer Diskussion vorgeschlagen, dass man die Kriminalität einfach verbieten soll, denn dann wäre sie ja weg. Aber gerade am Rechtssystem kann schön sehen, dass man nur das regulieren muss, was sich eben nicht selbst regulieren kann, weswegen das Rechtssystem den Problemen stets hinterherlaufen muss.

Was wollen Sie mir sagen?

Wir verbieten Kriminalität und stellen fest, es gibt trotzdem noch Taschendiebe und Mörder, die dagegen ihr Veto einlegen, obwohl sie das gar nicht dürften. Es dürfte keine Kriminalität geben. Es dürfte auch keinen Protest geben, weil er im System nicht vorgesehen ist.

Protest simuliert den Vetospieler. Deshalb gibt es im Protest intern eine Steigerungslogik. Man hat ein Anliegen und stellt fest: Die Gesellschaft kümmert sich überhaupt nicht darum oder zumindest weniger, als sie es sollte. Man muss also die Anliegen inhaltlich und semantisch verstärken, um dann festzustellen, dass die Differenz zwischen dem Ziel und der Realität noch größer wird, aber man wird immerhin gehört. Ganz am Ende muss man demütig feststellen, dass die eigenen Forderungen von anderen durchgesetzt werden.

In der Bundesrepublik meistens von Beamten im Auftrag der CDU Deutschlands.

Naja, nicht nur, zumindest von den Beamten, die eben dafür sorgen müsen, Ziele, Vorstellungen, manchmal sogar Visionen in handhabbare Formen zu gießen. Die 68er Bewegung hat aus visionärem Protest einen Verwaltungsakt gemacht. Ich würde sagen, das Genialste was die 68er erreicht haben, ist das Bafög. Es hört sich nicht nach großer Revolution an, aber das ist es.

Das war Willy Brandt.

Wenn es ein Gesetz gegeben hat, das sozialen Aufstieg ermöglicht hat und eine Akademisierung von Schichten, die davor dazu keine Chance gehabt hätten, dann ist es tatsächlich das Bafög. Aber die ganzen Diskussionen, die wir jetzt führen, etwa zu Quoten für Frauen, sind das Ergebnis von Protest. Und zwar Protest, der sagenhaft übersteigert war und von einer Patriarchats-Gesellschaft redete. Was kommt am Ende dabei raus? Womöglich eine Quotenregulierung, die wirklich richtig viel in der Gesellschaft ändert, aber subkulturell.

Das sind die für liberale Demokraten sympathischen Beispiele.

Es funktioniert auch andersherum. Nicht so sympathisch ist, dass man nur oft und laut genug von einer Islamisierung des Landes sprechen muss, und schon reden alle, die Migrationspolitik machen, über kulturelle Rückständigkeit von Leuten, die eigentlich gar nicht da sein sollten. Man sollte weit weg vom Protest sein, um zu verstehen, wie er eigentlich funktioniert. Sonst sieht man immer nur die sympathischen Formen - und nicht die eher unerfreulichen.

Der Punkt ist doch: Unser staatskritischer Protest ist immer notwendig, der von den anderen ist falsch und Demokratie erodierend. Ist das so klar zu trennen?

Das muss doch das Geschäftsmodell sein. Natürlich ist der eigene Protest immer der legitime und der Gegenprotest immer der falsche. Aus der Perspektive des Protests selbst ist das klar zu trennen. Aber mit einem analytischen Blick eben nicht mehr. Meine These ist: Beide funktionieren gleich.

Ist Protest im Kern undemokratisch?

Nein, natürlich nicht.

Warum? Ich kann doch nicht einfach daherkommen und sagen, ich bin in der Minderheit, habe aber eine höhere Wahrheit.

Es gehört zur Demokratie, dass man hingehen kann und sagen kann, was man denkt.

Undemokratisch wäre, wenn politische Entscheidungen danach gefällt werden, auf welcher Demonstration mehr Leute waren. Oder wenn man einer großen Versammlung vor dem Reichstag eine Entscheidungsbefugnis gibt. Es wäre undemokratisch, wenn man die Verfahren beschädigen würde, um die es geht. Aber Protest gehört zur demokratischen Kultur. Protest ist eine vitale Form einer Gesellschaft, auf sich selbst zu reagieren. Man muss in einer Demokratie unterscheiden zwischen den Verfahren, die kollektiv bindende Entscheidungen herstellen, und dem ganzen kommunikativen Drumherum, das das vorbereitet, ermöglicht und mit inhaltlicher Energie versorgt.

Der Protestakt als solcher ist also Teil der Demokratie oder kann Demokratie fördern, aber der dahinterstehende Gedanke ist, die demokratische Mehrheit liegt falsch und ich habe eine höhere Wahrheit.

Protest ist immer anmaßend und zwar in dem Sinne, zu denken, wir gehen jetzt auch die Straße und wissen, was richtig ist, und wir teilen euch das auf eine ziemlich deutliche Art und Weise mit. Und wir sind auch Leute, die an sich selbst sehen, wie schwierig es, ist die eigenen Forderungen durchzusetzen - und deswegen steigern wir uns semantisch und neigen manchmal auch zu Gewalttätigkeiten. Der Übergang zu Gewalt ist bei Protest relativ wahrscheinlich, weil man so wenigstens simulieren kann, dass man eine Wirkung hat.

Hat man aber nicht?

Manchmal schon. Protest kann auch undemokratische Wirkungen haben. Etwa, wenn man in den Parlamenten nicht mehr frei entscheiden kann. Ich bin kein Experte für das NS-Deutschland, aber vieles von dem, was zur Zerstörung der demokratischen Verfahren beigetragen hat, hat auf der Straße stattgefunden - als ein Protest, der sich gegen das System selbst wendet. Protest kippt um, wenn er nicht mehr Inhaltliches anprangert, sondern sagt, die Verfahren selbst sind nicht mehr legitim, das System an sich ist in der Wurzel verrottet.

Ich sehe den Protest von FFF als emanzipatorischen Fortschritt, weil er einen politischen Inhalt – Klimapolitik -  von den Institutionen einfordert, die zuständig sind und nicht alles in Grund und Boden verdammt. Luisa Neubauer hat auf der 40 Jahre Feier der Grünen gesagt: Wir sind die Verteidiger der parlamentarischen Demokratie. Aber die Enttäuschung über dieses Klimapaket war so groß, dass viele von den Kids dachten, wir müssen jetzt andere Saiten aufziehen.

Das Klimapaket ist ein Erfolg von FFF und gleichzeitig ein Symbol für die eigene Unmöglichkeit und den Misserfolg. Das ist genau die Spannung, in der solche Protestgeschichten stehen. Das spannende an FFF ist, dass sie gar nicht als Systemkritiker angefangen haben. Es liegt wahrscheinlich auch daran, dass es so junge Leute sind, jedenfalls  haben sie nur die Gesellschaft in ihrer Verantwortung adressiert. Die Enttäuschung ist dann am Ende natürlich groß, wenn das nicht passiert. Es ist aber auch die Verantwortung des Staates, gegen zu starke Visionäre geschützt zu sein. Das hat aber auch negative Folgen. Aus einer Vision und einem Protest wird ein Verwaltungsakt und ein Gesetz, bei dem man feststellt, dass das Problem am Ende doch nicht gelöst ist.

Ich würde sagen, man kann es auch als emanzipatorischen Erfolg werten, dass wir jetzt mit FFF eine junge Protestgeneration haben, die in einer konstruktiven Auseinandersetzung mit der parlamentarischen Demokratie sind. Das war bei den 68ern und 78ern nicht der Fall. Manche haben bis heute ein unaufgeklärtes Verhältnis zur Bundesrepublik.

Man muss abwarten, was bei FFF noch passiert, aber im Moment würde ich da zustimmen.

Der Gegenstand der FFF-Proteste ist radikal, die Form aber nicht. Die Fridays-Leute würden ja nicht sagen, das ganze System ist der Fehler. Sie sind viel stärker an den Inhalten orientiert als andere Protestbewegungen. Vor allem: Es gibt die Klimakrise, aber es gibt keine Islamisierung oder eine Diktatur von Virologen. Das ist also vielleicht der Versuch einer Protestbewegung, die Komplexität der Geschichten auch zu sehen. Gewissermaßen eine realistische Einschätzung der eigenen Chancen. Das ist eine erstaunlich reife Form des Protests. Es gibt hier zwar esoterische Abspaltungen, denen ist jedoch nicht gelungen, die ganze Bewegung zu okkupieren.

Fridays sind auch nicht „links“, sondern zielen auf das ganze Spektrum.

Luisa Neubauer sagte in einem Interview: Wir machen einen Fehler, wenn wir uns für eine generell linke Kritik halten. Das fand ich sehr gut. Kluger Protest sollte nicht unbedingt von vorneherein davon ausgehen, ein linker Protest zu sein. Der hat immer mit einer unrealistischen Vorstellung der Umgestaltung der Gesellschaft zu tun hat. Das würde ich den Linken ins Stammbuch schreiben, dass es tolle Forderungen sind, aber eben völlig unaufgeklärt im Hinblick auf die eigenen Mittel. Ich habe das einmal das „Sympathieparadox der Linken“ genannt – sehr sympathische Forderungen, denen man kaum widersprechen kann, aber in der Durchsetzung bisweilen dem Forderungskatalog entgegenstehend.

Heißt?

Linke Politikkonzepte sagen, wir sind jetzt als Staat der Vetospieler und schreiben vor, wie die Leute leben sollten, welche Produkte es gibt, was legitim und illegitim ist, um gewissermaßen einen Teil der Dynamik der Gesellschaft außer Kraft zu setzen. Das ist die Lebenslüge des Linken. Deswegen nennen sich manche, die genau damit ein Problem haben, linksliberal. Hartmut Rosa hat in Christ und Welt dem Sinn nach geschrieben, durch Corona sehe man, dass Politik wirklich richtig regieren kann. Die Aussage war: Die Politik kann doch die Gesellschaft steuern.

Die Realität zeigt, dass das in einer liberalen Demokratie gottseidank nicht geht.

Aber die Leute denken genau das jetzt: Bitte, es geht doch, es ist doch möglich. Was stellt man sich denn vor? Ökologische Fragen durch Lockdowns lösen? Das ist keine so gute Idee. Auf der anderen Seite muss man sagen, es gibt doch mehr intelligente Formen, mit Politik ein wenig zu steuern, als man so denkt.

Frau Neubauer hat gesagt, das Versagen der Grünen hat FFF nötig gemacht. Die Grünen verstehen das nicht.

Sie können das nicht verstehen, weil sie sich selber immer noch als Speerspitze dieser ökologischen Geschichte sehen. Sie sind aber politische Opposition, die aus Protestsicht nicht gehört wird. Insofern ist es nur konsequent, dass FFF vor allem die Grünen kritisiert.

Die Grünen wiederum entstanden aus Protest gegen das ökologische Versagen der SPD.

Und Pegida hat gegen die Union protestiert, die einzigen von denen man einigermaßen konservative Migrationspolitik erwarten konnte. Damit ist der Hass auf Merkel programmiert.

Meine Unterstellung ist, dass wir eine linksliberale Kultur haben, die den Vetospieler nie aufgegeben hat. Die immer darauf insistiert, dass sie außerhalb der Gesellschaft steht im Luhmann-Sinne.

Nicht außerhalb der Gesellschaft, aber es gibt Kommunikationsformen, die so tun, als wären sie es. Viele versuchen, Vetospieler zu sein, es ist eine eingeführte Praxis. Ich auch. Ich schreibe Texte und sage: So ist es. Aber andere sagen etwas anderes. Es gibt eine gesellschaftliche Eigendynamik, die den Vetospieler immer wieder vorführt, vor allem dadurch, dass es immer die Möglichkeit der Nein-Stellungnahme gibt. Das ist in Kommunikation angelegt.

Meine These ist, dass der Protest nicht mehr als politisches Mittel allein verstanden wurde, der eine bestimmte Funktion hat, sondern als Kultur, Haltung und Lebensstil.

In 30 der letzten 37 Jahre führte die CDU die Bundesregierung an und nur dazwischen regierten Schröder und Fischer. Diese kurze Zeit gilt manchen Linksliberalen als besonders schlimm. Unsere Haltung ist: Die anderen waren es. Wir haben damit nichts zu tun.

Das trifft es hundertprozentig. Es ist so, dass diese Form von Protesthaltung sehr bequem ist. Im Prinzip ist die Grundhaltung: Das lehne ich ab. Das wird prämiert, weil es Aufmerksamkeit und Information erzeugt. Es tut so, als wäre man wirklich der Vetospieler. Alleine den Satz zu sagen, dass es Parameter in der Gesellschaft gibt, die darauf hinweisen, dass manche Sachen ganz gut laufen, ist in vielen Milieus überhaupt nicht formulierbar. Sicher kann man im Stil der berühmten Szene in 'Das Leben des Brian' fragen: Was hat die parlamentarische Demokratie uns eigentlich gebracht? Zum Beispiel, dass man der Regierung widersprechen kann, ohne geköpft zu werden. Was hat die Wissenschaft uns eigentlich gebracht, fragen die Impfgegner. Zum Beispiel, dass es eine Impfung gibt. Ich habe in meinem 68er Buch den Begriff der Pose stark gemacht. Wo es keine Argumente mehr gibt, gibt es eigentlich nur noch die Pose – das gilt auch für Protestposen.

Wer eine starke Pose hat, braucht keine Argumente.

Beim Protest geht es in erster Linie natürlich um die Sache, oft aber auch schlicht und ergreifend um die Pose des Dagegenstehens, nicht nur auf der linken, sondern auch auf der rechten Seite. Vielleicht müsste man mal einen Aufsatz schreiben „Protest als Beruf“, in dem man zeigen kann, dass die Protesthaltung selber schon die Information ist, die Sache selbst spielt eigentlich gar keine Rolle. Manche Alt-68er haben den Lebensinhalt, „Protest“ zu sein. Es wird spannend sein, zu sehen, ob es sowas in zwanzig Jahren auch für Rechte gibt.  

Als ich anfing, mich mit Stuttgart 21 zu beschäftigen, ging ich wie selbstverständlich davon aus, die CDU-Regierung sei korrupt, mit der Wirtschaft im Bett und der zivile Widerstand gegen den Staat habe eine höhere Berechtigung. Wenn so ein Denken heute von Kritikern der Corona-Politik benutzt wird, kommt es bei mir als rechtsreaktionär und demokratiefeindlich an.

Ich habe keine politische Einstellung dazu, sondern eine wissenschaftliche. Ich will wissen, warum es zu dieser Protestform und Protesthaltung kommt. Und da kommt man um die Ähnlichkeiten von rechts und links nicht herum. Wie stark das Biografien prägt, sieht man am SPD-Konflikt über das neue Flugzeug, das Kramp-Karrenbauer kaufen will. Protestbiografien spielen da politisch eine Rolle. Statt ein Argument gegen das Flugzeug zu bringen, wird dann von SPDlern gesagt: Ich habe da früher dagegen demonstriert.

Wir merken in der Corona-Situation, dass die Neue Mittelschichts-Partei Die Grünen plötzlich wieder ein Problem hat,  gesamtgesellschaftliche Orientierung zu liefern. Wo ist der Zusammenhang zu den neuen Protestlinien?

Zunächst einmal hat es damit zu tun, wie überall so schön steht, dass dies die Stunde der Exekutive sei. Und da sind die Grünen im Moment nicht so stark vertreten.

Dazu kommt, dass sie am Anfang die Linie der Exekutive nicht kritisieren wollten. Sie waren klug genug, nicht wie die FDP als Opposition aus Selbstzweck automatisch dagegen zu sein. Aber durch Zustimmung ist die Opposition außer Kraft gesetzt. Sie haben außerdem eine offene Flanke, weil die Leute sagen, jetzt wird ja gezeigt, dass man politisch doch ganz viel machen kann, und ihr stellt euch mit den Klimathemen so dumm an. Die Führenden der Grünen sind wenigstens schlau genug, zu sagen: So läuft das aber nicht.

Sie sagen, es gäbe Demokratie verbessernden Protest und Demokratie erodierenden Protest. Im Grunde stehen die Grünen für ersteres, also im positiven Sinne rein in die Institutionen. Die AfD steht für die erodierende Absicht.

Im Buch habe ich geschrieben, Protest sei eine Erfolgsgeschichte. Protestkultur hat sich in dem Sinne zivilisiert, indem sie eine stärkere Auseinandersetzung mit der eigenen Steigerungslogik machen musste. Jetzt sind die früheren Protestler in Verfahren drin, in denen sie kollektiv bindende Entscheidungen treffen müssen. Bei den Grünen kann man diesen Durchlauf an Personen festmachen, namentlich an Joschka Fischer. Der wurde von jemand, der wahrscheinlich bei jeder Demo dabei war, zu jemandem, der so staatstragend redet, wie es nur möglich ist. Die Metamorphose der Grünen macht aus, dass sie sich selber verändert haben und nicht die Institutionen.

Die Institutionen haben sich doch verändert. Sind sie emanzipatorischer und liberaler geworden?

An den Akteuren der Grünen kann man sehen, dass sie Inhalte der Institutionen verändert haben, aber nicht die Verfahren, das ist in einem sehr demokratischen Sinne.

Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg vertritt die These, die Demokratie gründe darauf, dass Sokrates den Schierlingsbecher getrunken hat. Was sagen Sie dazu?

Dass er das Gift getrunken hat, ist das Bekenntnis zu den Verfahren. Vielleicht sagt der Grüne Ministerpräsident das ja gerade, weil man den Grünen früher nicht zugetraut hätte, dass sie inzwischen die sind, die den Verfahren selbst am Positivsten gegenüberstehen.

Aus linksemanzipatorischer Rebellensicht ist so ein Satz doch Hochverrat.

Das stimmt. Aber viele Grünen haben auch während der Flüchtlingskrise gesagt: Wir sind die wahren Anwälte des Rechtsstaates. Genau den hätte man vorher in der Pfeife geraucht, im wahrsten Sinne des Wortes. Eine sehr historische Ironie. Sie zeigt, dass der größte Schatz der Demokratie wahrscheinlich in der Stabilität dieser Verfahren liegt. Der alte Sokrates hat sich denen total unterworfen. Vielleicht hat Kretschmann also Recht mit seinem Satz.

Interview: PETER UNFRIED

Dieses taz FUTURZWEI-Gespräch ist nicht in der aktuellen Ausgabe erschienen, sondern haben wir unseren Abonnenten EXTRA zugestellt, weil wir in den letzten Monaten keine Live-Gespräche machen konnten.