Bald gehen die Kinolichter wieder an

■ Seit der Maueröffnung ist der Totentanz auf dem Gesundbrunnen zu Ende/ Durch die ehemalige Vergnügungsmeile ergießen sich EinkäuferInnenströme aus Prenzlauer Berg und aus Pankow

Als Lisa Brünig 1923 nach Berlin gekommen war, suchte sie erst mal bei ihrer Tante Marie in der Badstraße Unterkunft. »Die war Kriegerwitwe, arbeitete in einer Zylinderfabrik und brachte ihr Geld auf die Rennbahn.« »Früher war das alles viel schöner hier, das war ein richtiger kleiner Ku'damm«, erinnert sie sich. »Man konnte in wunderschöne Cafés gehen, vor allem um den Bahnhof herum. Auch Theater hatten wir hier und viele Kinos, das Corso zum Beispiel, das Lichtburg und den Kristallpalast.«

Die Karriere der Gegend begann, als der Hofapotheker und Arzt Heinrich Wilhelm Behm 1766 an einer mineralhaltigen Quelle die Bade- und Trinkkurheilanstalt »Friedrichs- Gesundbrunnen«, dem späteren »Luisenbad«, gründete. In den folgenden Jahren suchten zahlreiche von Gicht, Ausschlag oder Augenkrankheiten geplagte BerlinerInnen hier Heilung. Das Bad mauserte sich zum gepflegten Kurbad mit Amüsierbetrieb, Theater und »Restauration«. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts zählte ein Zeitgenosse den Gesundbrunnen zu den »lieblichsten Stellen um Berlin«.

Im Zuge der Industrialisierung wurde der Gesundbrunnen dann ein wichtiger Standort für Fabriken und Mietskasernen. Auch die Badstraße wurde heftig bebaut. Aus dem Kurbad wurde ein Wohn- und Vergnügungsviertel für die lower class. Die heilkräftige Quelle versiegte 1882, nachdem sie beim Bau der städtischen Kanalisation angestochen worden war. Dem Vergnügungstreiben tat das aber keinen Abbruch: 1879 waren auf 40 von insgesamt 67 Grundstücken Restaurantbetriebe. In den Resten der ehemaligen Stehbierhallen, Tanzschuppen und Gartenraststätten in den Höfen der Badstraße 31-34 befinden sich heute Garagen und kleine Werkstätten.

Um durch vermehrte Seelsorge Linderung für das Elend der ArbeiterInnen zu schaffen und um der kirchlichen Entfremdung zu wehren, ließ der preußische König Vorstadtkirchen bauen. 1835 wurde die Paulskirche nach Entwürfen von Karl- Friedrich Schinkel fertiggestellt, deren Freitreppe an einen antiken Tempel erinnert.

Viel genützt haben solche klerikalen Bemühungen jedoch nicht: Die Badstraße wurde zur Hochburg der ArbeiterInnenbewegung, zahlreiche SPD- und KPD-Mitglieder wohnten dort, und bis zum Mauerbau blieb sie weiterhin auch Kino- und Einkaufsmeile. »Über 20 Kinos gab es hier, die Vorstellungen begannen schon am Nachmittag, und es war immer etwas los. Wir haben die Straße damals manchmal scherzhaft »Sachsendamm« genannt«, erzählt Lisa Brünig. »Nach dem Mauerbau war es dann aber vorbei, alles ist immer mehr runtergekommen.« Die Kinos machten der Reihe nach dicht, wurden teils abgerissen, teils zu Supermärkten umfunktioniert. »Hier war echt Totentanz angesagt«, sagt auch die Serviererin im traditionsreichen Café Jahn. Auch das auf dem Gelände des ehemaligen Luisenbads errichtete Theater wurde bis in die sechziger Jahre als Kino genutzt. Heute ist die ehemalige Edelfassade des Gebäudes im Hinterhof der Nr.35/36 nur noch zu erahnen. Nach langen Diskussionen hat sich der Bezirk Wedding für den Bau einer neuen Bezirksbiliothek auf dem Gelände entschieden. Manfred Weißbach, Leiter des Stadtplanungsamtes Wedding, betont, daß »die historischen Gebäude als Bauteile in den Gesamtkomplex einbezogen« werden sollen.

Mit dem Mauerblümchendasein der Straße ist es seit der Maueröffnung vorbei. »Voller, lebhafter und stressiger ist es geworden«, meint Sabina, die ihre Kindheit im nahegelegenen Humboldt-Hain verlebt hat. Sie arbeitet in einem Jeansladen, der vor anderthalb Jahren eröffnet hat. Vor allem am Wochenende ergießen sich EinkäuferInnenströme in die Straße. Vor dem Aldi, der sich in den Räumlichkeiten des alten Atlantik- Kinos eingenistet hat, stehen jeden Morgen schon eine halbe Stunde vor Einlaß lange Schlangen.

Dafür sind die Gewerbemieten in dem Bereich auch kräftig in die Höhe geschnellt. »Ein Ladenlokal, das vor zwei Jahren noch 2.000 Mark Miete gekostet hat, kriegt man jetzt nur noch für 10.000 Mark und mehr«, klagt der Inhaber eines Textilgeschäftes. Auch Manfred Weißbach befürchtet, daß durch Investitionsschübe kapitalkräftiger Firmen kleinere Betriebe verdrängt werden. Er sieht die Zukunft der Gegend weniger im Produktions- als im Dienstleistungs- und Forschungseinrichtungen. »Wir denken aber auch an eine kulturelle Verdichtung, die Wiederbelebung der Kinolandschaft etwa oder Möglichkeiten für Kleinkunst.« Corinna Raupach