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Zeitgeist für Kinder und Jugendliche

■ Eine Geschichte deutscher Kinder- und Jugendliteratur/ Erzieherische Absicht häufig penetrant moralisch

Blickt man auf die Kinder- und Jugendliteratur in ihrer historischen Entwicklung, und einen solchen Überblick erlaubt das klar gegliederte umfangreiche Werk, dann erscheint es so, als hätten die pädagogisch motivierten Autoren die Tendenzen ihrer jeweiligen kulturgeschichtlichen Epoche noch verstärkt. So wirkt der moralische Impetus der Aufklärung in den literarischen Inszenierungen für die Jugend nicht selten penetrant.

In einer Geschichte wird beispielsweise ein Kind, das sich gern in den Mittelpunkt drängt, in einer vom Vater arrangierten Situation so übel vorgeführt, daß es sich in Zukunft freiwillig bescheiden am Rande zurückhält. Alles läuft unter dem Titel Erziehung zur Freiheit, aber die Freiheit wird von Pädagogen so eingerichtet, daß das Kind wie durch eine heimliche Maschine immer dirigiert wird, wie es einer in aller Offenheit ausspricht.

Gegen diese rationalen Gängelmethoden schlägt das Pendel in romantischen Kreisen stark in die Gegenrichtung aus. Die Kindheit wird nun als Poesie verherrlicht, das Kind gilt in seiner Art als vollendet, dagegen sind alle pädagogischen Anstrengungen verdächtig. Folglich dichteten die Romantiker kaum didaktisch, sie sammelten dagegen, im Vertrauen auf die geistige Verwandtschaft, Märchen, Sagen oder Volkslieder aus der Kindheit des Volkes.

Der jeweilige Zeitgeist scheint in den Exponaten für die Jugend extremer zu dominieren als in anderen Werken der Geistesgeschichte. Im Biedermeier — nun fühlten sich Theologen verstärkt zum Schreiben berufen — triumphierte nachhaltig die einwandfrei moralisch-religiös flankierte Suggestion, sich an seinem Platz in seiner Schicht wohlzufühlen. Für den Domkapitular Christoph von Schmid, seine Geschichten wurden in preiswerter Heftchenform vermarktet, waren Dorfbewohner arm aber gesund, die Reichen gebildet und hilfsbereit.

Es sind die Einzelheiten — die Zitate, die kurzen Inhaltsangaben und die zeitgenössischen Illustrationen, die der Band reichlich bietet —, die das Bild von den Kinder- und Jugendbüchern plastisch werden lassen.

Diefrühe friedliche Idylle wurde gründlich umgestürzt, als die Jugendbuchautoren immer schriller zu Kriegspropaganda übergingen: Als Idole fungierten nun preußische Reitergeneräle oder der Alte Fritz, Schauplätze pädagogischer Handlungen waren der Siebenjährige Krieg oder die Kolonien, und das aufgebotene geistige Rüstzeug fiel germanisch-nationalistisch-kämpferisch aus.

Die Kapitel zur Literatur der Weimarer Zeit, des Nationalsozialismus, des Exils, der Nachkriegszeit in der BRD und der DDR und zu den neuesten Kindermedien der Gegenwart sind die interessantesten des Buches, sicher weil die Vielfalt des Materials bisher unzureichend bearbeitet wurde.

Andererseits fallen hier die Grenzen eines so konzipierten Werkes besonders auf. Das erste Defizit folgt aus der systematischen Verzerrung, die mit der Beschränkung auf selbstdeklarierte Kinder- und Jugendliteratur verbunden ist, weil sie Lesestoff nicht berücksichtigt, der zwar nach der Konvention zur Erwachsenenliteratur gerechnet wird, jedoch von Jugendlichen rezipiert wird.

Das zweite Defizit ist ein empirisches; es wird nicht untersucht, wie Kinder und Jugendliche gelesen haben, inwiefern ihre Lektüre bewußtseinsbildend wirkte. Es fehlt eine Geschichte des Lesens, und deshalb geraten die Deutungen einzelner Bücher oder Textpassagen immer wieder in die Gefahr, die Wirkungsabsicht mit der tatsächlichen Wirkung zu identifizieren. Ob jedoch Kinder und Jugendliche je so gelesen haben, wie Pädagogen es von ihnen erwarten (oder befürchten), darf begründet bezweifelt werden. Erfolgreich waren immer die Jugendbücher, die sich gegen den Strich lesen lassen, die eine wunsch- oder lustorientierte Welt eröffnen.

Für viele Pädagogen mag dies eine Enttäuschung sein, aber angesichts dessen, was manche Autoren den Kindern so alles zumuten, ist es eher tröstlich. Werner Graf

Reiner Wild (Hrg.), Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur, Metzler Verlag, Stuttgart 1990, 476 Seiten, 250 Abbildungen, 58,00 DM.

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