: So bleibt uns die Marmelade ein ewiges Rätsel
■ Niklas Luhmanns neues Buch „Die Wissenschaft der Gesellschaft“: Eindrucksvolles Beispiel eigener Selbstreferentialität
Der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann, allgemein bekannt als der Architekt der Systemtheorie, hat wieder einmal ein System vermessen. Nach dem zuletzt Die Wirtschaft der Gesellschaft seinem Zettelkasten zum Opfer fiel, hat's nun die Wissenschaft erwischt. Als nächstes — das hat Luhmann schon angekündigt — ist die „Gesellschaft der Gesellschaft“ fällig. Sie kann es mit Gelassenheit erwarten: Kaum einer wird verstehen, was Luhmann darüber zu berichten hat. Diese Prognose stellt keine üble Nachrede dar und will auch kein Ressentiment bedienen. Das vorhergesagte Unverständnis liegt vielmehr in der Sache selbst, der Wissenschaft, begründet, und warum das so ist, will Luhmann uns in seinem neuesten Buch auf gut 730 Seiten erklären.
Der Alltagsmensch, tief verwurzelt in seinem pragmatischen Empirismus, pflegt hartnäckig zwei Vorurteile über Wissenschaft, die Luhmann gerne beseitigen möchte. Das erste ist, daß Wissenschaft mit etwas zu tun hat, das in erster Linie nicht sie selbst ist. Mit anderen Worten: daß sie einen Bezug zur Welt hat, die sie uns erklären will. Das zweite Vorurteil besagt, daß Wissenschaft von Wissenschaftlern betrieben wird, die sich über Versuch und Irrtum oder einfach durch Nachdenken zur Erkenntnis durcharbeiten.
Das aber ist nun ganz falsch, wie uns der Wissenschaftler Luhmann eröffnet, denn Wissenschaft ist ein System, und Systeme bestehen nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen. Wenn Systeme miteinander kommunizieren wollen, müssen sie sich verstehen können, also eine gemeinsame Sprache sprechen. Jedes System hat seinen Code. Der gilt allein für das System selbst, alles andere ist Rauschen. Im Falle der Wissenschaft ist der Code auf Wahrheit gepolt. Da aber Wahrheit nur ist, was nicht gleichzeitig unwahr ist, ist eben „wahr“ und „unwahr“ die sogenannte „Leitdifferenz“, an der sich die wissenschaftliche Kommunikation orientiert.
Man könnte jetzt denken: Also geht es ja doch darum, wie es nun wirklich ist. Tut es aber nicht — sagt Luhmann. Denn Wissenschaft beschäftigt sich nicht mit der Welt, sondern mit sich selbst. Als richtiges System erzeugt sie alle Wahrnehmungen und Bewertungen ausschließlich nach den Kriterien, die sie sich selbst gegeben hat. Wissenschaft — das ist nicht etwa der Versuch, Begriff und Sache kongruent zu machen. Das setzte ja voraus, daß es für die Wissenschaft etwas außerhalb der Wissenschaft geben kann, Marmelade zum Beispiel. Wissenschaft beschäftigt sich aber nicht mit Marmelade, sondern damit, wie Marmelade beschrieben wird — und so ist die Beschreibung von Beschreibungen, die Beobachtung von Beobachtungen, das Unterscheiden von Unterscheidungen das eigentliche Geschäft der akademischen Zunft. — Luhmann will in seinem Buch nun zeigen, wie mit Hilfe weiterer Beschreibungen, Beobachtungen und Unterscheidungen das Beschreiben, Beobachten und Unterscheiden zu verstehen ist. Daher werden in den einzelnen Kapiteln die symbolischen Werkzeuge der Wissenschaft, von A wie Abstraktion bis Z wie Zufall, in die systemtheoretische Fasson gebracht.
Luhmanns Vorgehen kann man sich dabei als eine begriffliche Verfremdung vorstellen: Ich fange einfach mal an, längst bekannte Phänomene mit einer Spezialsprache zu belegen, um dann beim Leser auf den Augenblick zu warten, wo dieser feststellt, daß man es auch so sehen kann. Das ist dann Erkenntnis. Mit Wahrheit im landläufigen Sinne hat das nicht viel zu tun, denn — so eröffnet uns der Autor — die „wirkliche Welt ist den Menschen kognitiv unzugänglich“ (S.307).
Also wird uns die Marmelade wohl ein Rätsel bleiben müssen. Alles Streben nach Erkenntnis ist danach Resultat ihrer eigenen Operationen, eine rekursiv geschlossene Wiederholung ad infinitum. Jede These, die da vertreten wird, impliziert sich selbst und ist ihr eigener Beleg. Nun glaube keiner, bei Luhmann die wissenschaftliche Todsünde des Zirkelschlusses monieren zu können — die Tautologie nämlich sei eigentlich die Krönung der Methodik, da immer alles auf sich selbst verweist: „selbstreferentiell“, wie es in der Fachsprache heißt.
Das mag nun alles ganz verwirrend klingen, oder auch furchtbar banal und nur der gewöhnlichen Meinung entsprechen, daß alles relativ, aber gar nichts wichtig sei. Doch sollte man sich nicht täuschen lassen: In Wirklichkeit ist der Bielefelder Soziologe ein großer Freund der Ordnung. Die ganze Welt ist schön aufgeteilt in jeweils autonome Subsysteme, die alle hübsch fleißig ihre Codes und Leitdifferenzen gelernt haben. Daß da nichts durcheinander geht, da seien die Ohren des Systems vor. Die hören nämlich nur, was sie schon kennen. Doch Luhmann ist viel zu lange schon dabei, als daß er nicht wüßte, daß es etwa in der Wissenschaft nicht nur um Wahrheit, sondern auch um Ehre geht. Reputation bringt das Verdienst zum Ausdruck, die Systemsemantik besonders schön dekliniert zu haben. Da aber die Beherrschung dieses Sprachspiels ja gerade die Produktion von Wahrheit ist, steht Reputation der Wahrheit nicht entgegen, sondern ist durch sie bedingt — weshalb Niklas Luhmann so bekannt ist.
Zweck der Wissenschaft kann nur sie selbst sein: Ihre einzige Funktion ist, neues Wissen zu erzeugen, und ob das nun etwa nützlich oder schädlich ist, darf einen Wissenschaftler nichts angehen. Völlig losgelöst von Materie und Geist, wie sie in den Kommunikationen anderer Systeme verhandelt werden, prozessiert auf diese Weise Wissenschaft dahin, und nur der Laie kann vermuten, hier mische sich manchmal vielleicht noch etwas anderes ein: Leidenschaft zum Beispiel, Geld oder Eitelkeit.
Luhmann hat Anfang der achtziger Jahre seine Systemtheorie umgebaut und dabei auf einen eher konservativen Grundriß gesetzt: die Theorie der „Autopoiesis“, wie sie vor allem in der Biologie vertreten wird. Danach ist jedes System in sich geschlossen, keines kann das andere beherrschen oder verwirren. Die Chaosfraktion der Systemtheorie sieht das ganz anders. Hier implodieren Systemzustände ständig in sich selbst, weil sie die Vielfalt der Zeichen und Sprachen nicht mehr auf die Reihe bekommen.
Doch Luhmann hat sich gegen das Chaos entschieden, also muß er jetzt auch an die Ordnung glauben. Überhaupt hat er gegen zuviel Durcheinander seine Sicherungen eingebaut. Bevor etwa einer auf den Gedanken kommt, Luhmann zufolge könne alles wahr sein, solange es nur konsequent falsch ist, hat der Autor schnell noch einen Begriff erfunden: die „strukturelle Koppelung“. Überall da, wo es allzu wild zugehen könnte, taucht diese „Koppelung“ auf, mit der sich das ganze System an seine Umwelt klammert, um doch noch etwas mitzukriegen.
Irgendwie scheint Luhmann seinen eigenen Thesen nicht zu trauen, und so führt er an diesen Stellen dann doch wieder eine Außenwelt ein, an deren Merkmalen sich Wissenschaft zu bewähren hat. Empiriker aber werden sogleich wieder enttäuscht sein. Für Luhmann sind Theorien, die auch noch stimmen, nicht wahr, sondern „raffiniert“.
Kein Rezensent wird also für seine Behauptung den Wahrheitsbeweis antreten können, daß Luhmanns Buch über die Wissenschaft vielleicht gar keine Wissenschaft ist. Das Enttäuschende aber ist, daß es dadurch auch nicht besser wird, weder literarisch noch intellektuell. Luhmann gibt zum wiederholten Male ein eindrucksvolles Beispiel seiner eigenen Selbstreferentialität. Für alles, was er sagt, ist sein Sprachspiel der beste Beweis. Alles, was es sonst noch gibt, rauscht förmlich an ihm vorbei — und so darf man sich nicht wundern, die Probleme von Nutzen und Schaden der modernen Wissenschaft in diesem Buch so gut wie nicht erwähnt zu finden.
Dafür wird man mit langen, oft schon wiederholten Ableitungen von Begriffen entschädigt, die wohl nur noch die wirklich Hartgesottenen unter den Fanatikern interessieren dürften. Das wäre ja nicht weiter schlimm, wenn Luhmanns Theorie nicht gleichzeitig so feige wäre. Den erkenntnistheoretischen Konstruktivismus stoppt er dort, wo es ihm zu anarchistisch wird und sein heimlicher Positivismus Schaden nehmen könnte. Ansonsten warnt er seitenlang, die Wissenschaft um Gottes Willen nicht mit Fragen zu belästigen, die sie nicht auch selbst gestellt hätte.
Daher mag er auch die Moralisten unter den Wissenschaftlern nicht, die immer mit der Vernunft kommen. Viel weniger jedoch kann er in diesem Buch die Rationalisten leiden. Deren Anspruch, eine Theorie müsse intersubjektiv überprüfbar sein, kann Luhmann die ganze Wissenschaft vermiesen. In der Mitte des Buches findet sich der Satz: „Jede Kommunikation regt dadurch zur Fortsetzung an, daß sie ein bißchen über das hinausgeht, was sich letztlich halten läßt.“ Wer aber andauernd übertreibt, der langweilt seine Gesprächspartner. Sighard Neckel
Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1990, 732 Seiten, 88,00 DM.
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