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Madrid — als Kulturhauptstadt 1992 unerreichbar

Konzerte, Theateraufführungen und Ausstellungen sollen BesucherInnen anlocken — doch Verkehrswege und Säle existieren nur auf dem Reißbrett  ■ Aus Madrid Claudia Wuttke

Spanien sieht einiges auf sich zukommen im nächsten Jahr: die olympischen Spiele in Barcelona, die Weltausstellung Expo in Sevilla; und Madrid wird Kulturhauptstadt Europas. Doch während im Osten und Süden des Landes bereits eifrig geplant und gebaut wird, bilanziert man in Madrid zunächst einmal, woran es der 1992 doppelten Hauptstadt fehlen wird. Und das ist in erster Linie eine ausreichende Infrastruktur.

Das Kommunikationssystem ist veraltet und marode, das Transportwesen wird den Anforderungen längst nicht mehr gerecht. Zu diesem Ergebnis jedenfalls kommt eine Studie, die das Forschungsinstituts Popromadrid in Zusammenarbeit mit der konservativen Volkspartei im Hinblick auf das Jahr 1992 und den EG-Binnenmarktes angefertigt hat.

Die Kritik scheint berechtigt, denn die Sterne des Europabanners, die den Kulturbeflissenen 1992 den Weg nach Kastilien weisen sollen, verlöschen spätestens an den Stadtgrenzen. Der Flughafen Madrid-Barajas ist schon heute stark überlastet. Der Personenverkehr dort hat sich in den letzten zwanzig Jahren auf 18 Millionen Passagiere 1990 beinahe verfünffacht. Dem soll nun durch den Bau von drei weiteren Landebahnen und eines zusätzlichen Terminals Rechnung getragen werden; jüngst begonnen, soll der Flughafenausbau im Jahr 2030 fertiggestellt sein. Sofern die Abwicklung planmäßig verläuft, erhofft man sich, im Sommer 1992 die erste Bauphase abschließen zu können.

Doch die Hoffnung, die Spaniens Verkehrsminister José Barrionuevo in den ausgebauten „Superflughafen“ legt, kann Augustin Rodriguez Sahugún, bis gestern Bürgermeister von Madrid, nicht teilen. Er beschwört die Notwendigkeit eines ganz neuen Luftlandeplatzes, andernfalls, bliebe Madrid „weiterhin sehr unverbunden mit der neuen Achse Berlin-Wien“.

Aber die 92er Passagiere kommen früher, als solche Blütenträume Früchte tragen; und was sie auf dem Weg zu ihren Hotels erleben, wird „eine Stadt im Bau“ sein, urteilt die liberale Zeitung 'El Mundo‘. So wird wohl das erste Konzert für die Gäste der Kulturhauptstadt vom städtischen Hoch- und Tiefbauamt dirigiert weden.

Bis heute ist Barajas nur mit einem Autobahnzubringer verbunden. Eine Zugverbindung, die den Flughafen mit der Stadt verknüpft, gibt es noch nicht. Mit ihrem Bau soll 1992 begonnen werden. Ebenso in Planung sind Anfahrtsmöglichkeiten vom Stadtring und von der nördlichen Einfallstraße aus. Deren Verwirklichung fällt in die dritte Phase des Unternehmens Megaflughafen und damit in das Jahr 2030. Hinzu kommt, daß zumindest die Anfahrt über den Stadtring nicht unbedingt zu empfehlen ist, weil dieser schon vor seiner endgültigen Fertigstellung im Verkehr erstickt.

Trotzdem ist Madrid über den Luftweg noch am bequemsten zu erreichen. Denn eine Autobahn, die die Stadt mit dem restlichen Europa verbände, wird 1992 noch nicht existieren; eine Bundesstraße nur dann, wenn die Arbeiten dafür pünktlich abgeschlossen werden.

Auch an das europäische Eisenbahnnetz ist Madrid noch nicht ebenbürtig angeschlossen. Den Hochgeschwindigkeitszug müssen Reisende spätestens im südfranzösischen Bordeaux verlassen. Der frühere Vizepräsident der spanischen Regierung, Alfonso Guerra, erneuerte noch einmal die Legende vom Zuspätgekommenen, den das Leben bestraft. Er versicherte den MadrilenInnen, daß sie weiterhin in den endlosen Staus stecken werden, weil sie es zwanzig Jahre lang versäumt hätten, darüber nachzudenken, wie ihre Stadt 1992 aussehen sollte.

Im Sommer 1991 ist die Frage nicht mehr länger, wie sich die Hauptstadt 1992 darstellen soll; es geht allein darum, wo noch gemauert werden kann, damit der Brunnen nicht allzu tief ist, in den das Kind womöglich fallen wird. Und dabei geht es nicht allein um die Auflösung des Verkehrsknotens. Vielmehr ist überhaupt noch weitgehend unklar, durch welches Veranstaltungsknäuel sich der Reisende eigentlich hindurchwursteln soll, wenn er die capital cultural besucht.

Schuld daran sind politische Rangeleien zwischen Regierung, der autonomen Gemeinde Madrid und der Stadt. Gefeilscht wird um Geld, denn die Kassen sind leer. Handelspartner ist der politische Gegner, was den Einigungsprozeß nicht gerade beschleungt. Im Rathaus hat die Koalition aus Zentrum und Volkspartei die Mehrheit. Würde die von der sozialistischen Arbeiterpartei Spaniens dominierte Gemeinde kräftig zuschießen, käme das praktisch einer Wahlkampfunterstützung der Konservativen gleich. Der politische Erfolg einer geglückten Präsentation Madrids 1992 ginge auf deren Konto. Und die sozialistische Regierung unter Felipe González entzieht sich der Verantwortung, indem sie ihre Verpflichtung gegenüber dem ganzen Land herausstreicht. So kam es, daß nach der Benennung Madrids im Mai 1988 zur kulturellen Hauptstadt Europas 1992 anderthalb Jahre verstrichen, bis man sich zunächst auf eine Kommission geeinigt hatte, die mit der Planung der Veranstaltungen beauftragt ist.

Eine für Ende 1989 vorgesehene gemeinsame Ausstellung der drei Städte Barcelona, Sevilla und Madrid mußte ausfallen. Sie sollte über den jeweiligen Stand der Entwicklung informieren. Und während das Bild von Cobi, dem Maskottchen der olympischen Spiele, auf jeder Kakaodose prangt, und der sevillanische Glücksbringer Curro, jene witzige Kreuzung aus Elefant und Papagei, als T-Shirt-Aufdruck für die Expo werben soll, wühlt man im Madrider Souvernirladen lange nach Propaganda für die eigene Stadt — bis man auf einen langweiligen Aufkleber stößt: M-1992.

Dabei gibt es durchaus eine Vielzahl von Projekten, die rechtzeitig fertig werden. Dazu gehört der Umbau eines alten Schlachthofs im südlichen Stadtzentrum zum neuen Sitz des Nationalballetts, der auch für Konzerte des Madrider Symphonieorchesters Raum böte. Das jetzige Auditorium soll außerdem durch den Bau eines weiteren ergänzt werden, das 25.000 Plätze fassen wird. Internationale Ensembles müßten also nicht mehr länger im wenig geeigneten Sportpalast ihre Vorstellung geben, und Gastspiele auswärtiger Orchester hörten auf, die Ausnahme zu sein. Des weiteren ist die Restauration und der Ausbau verschiedener Theater, die Neueinrichtung mehrerer Museen, der vollständige Umbau einer „Kinderstadt“ und eine Art romanisches Amphitheater als ständiger Sitz für die Zirkusleute in Arbeit — beziehungsweise in „Kurzarbeit“.

So ist das künftige Buch- und Instrumentenmuseum, welches auch das „Haus der Poesie“ beherbergen wird, seit Monaten mit einer grellbunten Plane zugehängt, die lediglich anzeigt, daß dort etwas geschieht. Und wenn schon nichts sicher ist, so den Kommentatoren zumindest das eine: bis 1992 werden diese Projekte nicht abgeschlossen sein, wenn nicht bald etwas unternommen wird. Aber der öffentlichen Hand fehlt es an finanziellen Mitteln oder an der Bereitschaft, sie zur Verfügung zu stellen. Also sucht man nach Geldgebern aus der freien Wirtschaft, die sich in den Veranstaltungskalender einkaufen. Damit mag vielleicht gesichert werden können, daß Luciano Pavarotti wieder in der Hauptstadt singt. An der Plaza de las Ventas jedoch werden die SchaustellerInnen und Zirkusleute ihre akrobatischen Künste noch länger im blau-gelb gestreiften Zelt darbieten müssen. Dieser Zirkus ist weniger spektakulär und verzinst sich von daher schlechter.

Auf dieser Linie lassen sich auch die außergewöhnlichen Anregungen des Konsortiumsdirektors zur Koordinierung der Aktivitäten, Pablo López des Osaba, besser verstehen. Er schlug vor, die drei verbleibenden Mitglieder der Beatles in Madrid zu vereinen oder den Regisseur Steven Spielberg unter Vertrag zu nehmen, damit dieser ein „Klang- und Lichtspiel in den Straßen der Stadt“ organisierte. Ersteres erwies sich als utopisch, und Spielberg teilte dem Konsortium mit, daß er vor 1995 nicht nach Madrid kommen werde.

Wenn Madrid etwas zu verlieren hat im kommenden Jahr, dann etwas Wichtigeres als den Schein, den es nach außen abzugeben erhofft. Schwerer wiegt, daß man dabei ist, sich die Möglichkeit zu verspielen, der Stadt ein dauerhaftes kulturelles Profil zu verleihen. Pavarotti geht, der Konzertsaal würde bleiben. Und mit ihm der Boden, auf dem eine eigene, eine spanische Kunst wachsen könnte, die sich ihr Selbstbewußtsein nicht durch Kulturimporte erschwindeln müßte.

Daß das möglich ist, beweist der Erfolg des 33jährigen Tänzers und Ballettdirektors am lyrischen Nationaltheater, Nacho Duato, den das Kulturministerium aus den Vereinigten Staaten nach Madrid holte. Seine Inszenierungen sind spanisch, weil sie die eigenen Traditionen und die folkloristische Gegenwart aufgreifen, anstatt beides zu bemänteln. Was er tanzen läßt, ist echt — und echt ist auch der Beifall, den er dafür im Ausland erntet. Ihm darf vielleicht geglaubt werden, wenn er behauptet, daß sich hinter Spaniens Fassaden mehr verbirgt als ein Miró; daß man auf das im Schatten gehaltene Gesicht stößt, „während man die Zeitung liest oder durch die Straßen spaziert“. Dieser Spaziergang wird einem vorerst nicht erspart bleiben, denn, so Duato in einem Interview mit der Tageszeitung 'El Pais‘: „Wir sind ohne Medium: keine Theater, keine Schulen, keine Unterstützung.“

Diese Medien zu schaffen, dazu wäre das Jahr 1992 ein guter Anlaß gewesen. Auf der Expo in Sevilla will sich Madrid mit einem durchsichtigen Würfel von 27 Metern Seitenlänge repräsentieren. Sein Inneres bietet Raum für Ausstellungen und Konzerte, die im Ganzen die Vielgesichtigkeit und Durchlässigkeit der Stadt symbolisieren sollen.

Es bleibt zu hoffen, daß die Würfel für Madrid capital cultural noch nicht endgültig gefallen sind. Sie wären leer.

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