Die Niederlande als Königmacher Europas

Während der EG-Präsidentschaft der Niederlande will die Gemeinschaft die entscheidenden Schritte hin zur Europäischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft machen/ Konflikte mit Großbritannien sind vorprogrammiert  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Blaues Blut belebt derzeit die Metamorphose EG-Europas. Nach der großherzoglichen Schirmherrschaft in den vergangenen sechs Monaten übernahm vor einer Woche eine Monarchin das EG-Zepter — zeremoniell zumindest, denn Beatrix ist zwar niederländisches Staatsoberhaupt, darf als Königin aber nicht an der bürgerlichen Herrenrunde der zwölf EG-Staats- und Regierungschefs teilnehmen. Statt ihrer drängen sich der holländische Premierminister Ruud Lubbers und sein für die Außenpolitik zuständiger Kollege Hans van den Broek im Glitzerlicht der Europapolitik.

Die holländische Regierung wird bis Ende des Jahres den Vorsitz von etwa 70 Treffen des EG-Ministerrats führen, zusammen mit ihren Beamtenstäben deren Tagesordnungen bestimmen und damit für kurze Zeit zu Weltmachtlenkern aufsteigen. Statt über knappe 15 herrscht Lubbers plötzlich indirekt über 340 Millionen Menschen — eine Aufgabe, die der Premier für „sehr, sehr schwierig“ hält. Kein Wunder: Als Krönung der niederländischen Präsidentschaftszeit soll aus dem weltgrößten Binnenmarkt eine Wirtschafts- und Währungsunion einschließlich politischer Union entstehen. — Wie die frischgebackenen Europa-Lenker diese anspruchsvolle Aufgabe zu lösen gedenken, erklärt Außenminister van den Broek heute den EuroparlamentarierInnen in Straßburg. Aus diesem Kreis wurden jedoch schon Bemerkungen laut, man habe mit den Niederländern den Bock zum Gärtner ernannt. Schließlich vertreten sie in zentralen Fragen der politischen Union die extremsten Positionen. In der Sicherheitspolitik sind die Niederländer stramme Atlantiker — schärfer noch als die Briten. Die europäische Verteidigung kann nach Meinung van den Broeks, der angeblich Wörner als Nato-Generalsekretär beerben möchte, nur innerhalb der Nato stattfinden, eine EG-Aufrüstung mit Hilfe der Westeuropäischen Union lehnt er vehement ab.

Mit gleicher Verve boykottiert er jeden Versuch, dem Europäischen Rat, wie die EG-Regierungschefs ihre halbjährlichen Gipfeltreffen nennen, mehr Entscheidungsbefugnisse im Bereich der Außenpolitik einzuräumen. Nach der niederländischen Verfassung ist der Premier lediglich Primus inter pares und kann als solcher nicht in die Amtsbereiche seiner Minister hineinregieren. Über den Umweg Europäischer Rat würde dem Premierminister dazu dennoch die Möglichkeit gegeben, so van den Broeks Befürchtung. Denn auch Lubbers hat ehrgeizige Pläne: Er möchte Nachfolger von Delors als Präsident der EG-Kommission werden. Deswegen setzt er sich für dessen Idee einer politischen Union ein. Zur Verwirklichung seiner Ambitionen benötigt er allerdings die Zustimmung seiner Kollegen — auch die des britischen Premiers und EG- Bremsers Major.

Wohl auch deshalb wird erwartet, daß die Holländer ihre traditionell guten Beziehungen zu der britischen Regierung ausbauen und so als Vermittler im Streit um den Grad der EG-Integration fungieren können. Anders als die britische Regierung befürwortet die niederländische allerdings die Aufwertung des Europaparlaments und die Errichtung eines föderalen Europas — dies jedoch recht halbherzig, nicht nur, weil es van den Broek weniger um die Beseitigung des „demokratischen Defizits“ als um die eigene Karriereplanung geht.

Stärker scheiden sich die niederländisch-britischen Geister in der Umweltpolitik: Der holländische Umweltminister möchte dieses Jahr noch eine EG-weite Abfallpolitik durchsetzen und Ökosteuern beschließen. Vor allem letztere sind Großbritanniens Major ein Greuel — ebenso wie die von dem niederländischen Rüstungsminister forcierte Diskussion über die Modernisierung der EG-Rüstungsbranche. Die europäischen Waffenschmieden sollen gegenüber der US-amerikanischen Konkurrenz fit gemacht werden. Dazu will man im Den Haager Rüstungsministerium die Hätschelkinder der nationalen Regierungen deren Kontrolle entreißen und in den Binnenmarkt integrieren. Weil dieses Ansinnen besonders in Paris und London auf Skepsis stößt, haben die Niederländer inzwischen ihre Forderung fallen gelassen, den Paragraphen 223 der EG-Gründungsverträge zu streichen. Dort ist nämlich festgeschrieben, daß die Produktion von und der Handel mit Waffen, Munition und anderem Kriegsmaterial ausdrücklich von den Vorschriften des EG-Binnenmarktes ausgenommen ist. Er soll nur noch „substantiell geändert“ werden — dies aber vor Jahresende.

Gemeinsam plagen sich die Regierungen in London und Den Haag hingegen mit der EG-Asylpolitik, die ebenfalls dieses Jahr noch verabschiedet werden soll. Bereits jetzt sind jedoch großzügige Ausnahmen für Großbritannien vorgesehen. Und ob das holländische Parlament das Schengener Abkommen ratifizieren wird, das als Keimzelle einer EG- weiten Asyl- und Ausländerpolitik gilt, bleibt unsicher. Gemeinsam ist den beiden Regierungen auch das Interesse an einer Ausweitung der EG. Als konkreten Schritt dazu soll im Herbst die von Lubbers initiierte europäische Energie-Charta unterzeichnet werden, mit der sich Westeuropa von den unsicheren Energiequellen im Nahen Osten unabhängig machen möchte.