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Eine Ratte verhinderte die Vergewaltigung

■ Die beiden Männer auf dem U-Bahnsteig hatten nicht mit dem Kuscheltier unter dem Pullover des Mädchens gerechnet

Berlin. Die Schlußlichter der U-Bahn-Linie 1 verschwanden und ließen Alwina, 16, die eben die Treppe am Sophie-Charlotte-Platz zum Bahnsteig heruntergerannt war, 20 Minuten tote Zeit. Der Trupp BVG-Bediensteter der Spätschicht, der den Zug verlassen hatte, war rasch außer Sicht. Zurück blieben, nicht weit vom Ausgang, zwei kichernde junge Männer. Alwina suchte gegen die Langeweile etwas zum Rauchen. Der Zigarettenautomat hing außerhalb der Station, Alwina wandte sich zur Treppe zurück. Plötzlich und fast lautlos waren die beiden Männer über ihr. Eine Hand preßte sich auf ihren Mund. Sie konnte die Zähne nicht auseinanderbekommen, der Kerl war geschickt und stark. Als eine weitere Hand ihren Kehlkopf quetschte, kam in Alwina die Angst hoch, und ihr Widerstandswille gegen eines dieser bohrenden Knie ließ nach. Ihr Unterleib schien den beiden Männern ausgeliefert. In diesem Moment biß Mo zu. Mo war eine junge Ratte, knapp vier Monate alt, aber so gut wie ausgewachsen. Alwina hatte sie von einer Freundin übernommen und trug sie meist am Körper durch den Tag und die Stadt. Gewöhnlich hielt sich Mo zwischen T-Shirt und Pullover auf, mal im Nacken, mal vorm Bauch, am liebsten in der Achselhöhle. Es war kuschelig da, und Mo hatte in ihrem jungen Leben nie etwas anderes getan, als kuschelnd und anmutig mit den Pfötchen fressend Sympathiewerbung für ihre ungeliebte Gattung zu machen. Als jetzt unversehens die fremden, aggressiv riechenden Hände unter Pullover und T-Shirt herumgrabschten, versuchte Mo auszuweichen, fühlte sich dann aber in die Enge getrieben und bedroht.

Eine Ratte muß nicht lernen, was zu tun ist, wenn sie einer Gefahr nicht ausweichen kann. Mo verbiß sich in die greifende Hand, sie biß nah am Handgelenk zu, es erwischte eine Vene, das Blut tropfte wie bei einem Kinomord. Schlimmer noch als der Schmerz traf ihn der Schreck, als er die Ratte baumeln sah. Er zerrte und schleuderte und wurde das Tier nicht los. Die normale Verteidigungsstrategie einer Ratte ist eigentlich simpel: schnell zubeißen und schnell weg. Aber diese hier hatte einen Beißkrampf oder sonst etwas, jedenfalls stimmte etwas nicht mit ihr, sie hing fest. Der Mann brüllte nach Hilfe, sein Kumpel drehte sich zu ihm hin, allerdings nur halbherzig, da er sich vor Ratten ekelte. Alwina merkte, daß die Männerhände nicht mehr bei der Sache waren, sie kam irgendwie vom Boden weg und und rannte, rannte, rannte.

Das panische Geschleuder wurde für Mo schließlich zuviel. Vom Schweiß- und Blutgeruch und von der Anspannung der Beißmuskeln halb benommen, konnte der Körper der Fliehkraft nicht länger standhalten. Sie klatschte mit der Breitseite gegen die Wand, fiel herunter, ein Höllenschmerz schoß ihr durch den Rücken, etwas zwang sie zu einem Verzweiflungssprung, den fast alle Tiere in der höchsten Not tun. Sie hüpfte und rutschte und rollte quer über den Bahnsteig, über die Bahnsteigkante, hinunter ins Gleisbett, drängte sich dort in einen Mauerriß. Sie hörte noch eine Weile den jammernden Zorn der Männer, überstand das Gekreische der einfahrenden U-Bahn und kroch schließlich in den Schutz des Tunnels. Später drangen Mädchenstimmen vom Bahnsteig her in den Schacht, es war die vertraute Stimme Alwinas und die von zwei oder drei Freundinnen. Mo zögerte. Die Erinnerung an die Kuschelhöhle in Alwinas Pullover war stark, doch die Erinnerung an den gräßlichen Schmerz und die Angst war stärker. Die Ratte begab sich immer weiter in den Tunnel hinein, bis sie schließlich die Stimmen nicht mehr hörte. Hamu

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