: Angst vor dem Chaos im neuen Schuljahr?
■ Massive Proteste gegen Entlassungen von Lehrern in Ostdeutschland und Überprüfungsverfahren
Erfurt/Dresden/Magdeburg. Tausenden „politisch belasteten“ und „minderqualifizierten“ Lehrern droht die Entlassung. Gewerkschaften, Lehrerverbände und Betroffene kritisierten vor allem das pauschale Vorgehen der Überprüfungskommissionen. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat am Dienstag in Bonn das in Thüringen angewandte Überprüfungsverfahren kritisiert. Lehrer hätten Ende Juni Schreiben erhalten, in denen ihnen pauschal mitgeteilt wurde, daß wegen ihrer Vergangenheit Bedenken gegen eine Weiterbeschäftigung bestünden. Von den Lehrern werde dazu eine Erklärung bis Juli gefordert. In den Briefen werde jedoch nicht darauf verwiesen, worauf sich die Bedenken beziehen, auch nicht, welche Erkenntnisse und Anschuldigungen dazu herangezogen worden seien. Der Denunzination werde Tür und Tor geöffnet, sagte Gewerkschaftschef Dieter Wunder.
Zehn bis 20 Prozent der Thüringer Lehrer würden um ihre Weiterbeschäftigung fürchten, schätzte Wunder. Zwar halte die Lehrergewerkschaft Entlassungen wegen erwiesener Stasi-Mitarbeit selbstverständlich für Rechtens, jedoch habe in einem Rechtsstaat jeder Betroffene Anspruch auf ein ordentliches Verfahren. Dazu zähle das Recht, die ihm zur Last gelegten Anklagepunkte zu erfahren.
Auch in Magdeburg hat am Dienstag der Deutsche Beamtenbund (DBB) Sachsen-Anhalts die Kontrolle der Lehrerüberprüfungen verlangt. Es sei nicht zu übersehen, daß Lehrer aus Schulen gedrängt werden, denen weder eine Stasi- noch eine politisch belastete Vergangenheit nachgewiesen werden könne, sagte der Landesvorsitzende Werner-Eckard Böhm vor Journalisten.
GEW-Chef Wunder befürchtet zum Start des neuen Schuljahres in den neuen Bundesländern „chaotische Zustände“. Viele Lehrerkollegien würden völlig auseinandergerissen, die Weiterbeschäftigung sei in vielen Fällen völlig unklar, und nur selten lasse sich ein ordentlicher Unterricht planen. Der Landesvorsitzende des Lehrerverbandes Sachsen-Anhalts sieht zudem die Gefahr, daß etwa 30 Prozent der Jugendlichen in den Westen abwandern, weil sie dort mit einer besseren Berufsausbildung rechnen. taz/dpa
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