: Mörder von gestern und morgen
■ betr.: "Siemens muß Zwangsarbeiterin nicht entschädigen", taz vom 4.7.91
betr.: „Siemens muß Zwangsarbeiterin nicht entschädigen“,
taz vom 4.7.91
Gegenwärtig hat der Elektrokonzern Siemens weltweit 407.000 Beschäftigte und konnte bereits im laufenden Geschäftsjahr seinen Umsatz um etwa 14 Prozent auf 72 Milliarden Mark ausweiten. Das Siemens-Management erwartet für 1991/92 vor allem durch die Eingliederung der ostdeutschen Töchter noch einmal einen kräftigen Schub auf bis zu 80 Milliarden Mark... (entnommen aus dem Wirtschaftsteil der 'Frankfurter Rundschau‘ vom 6.7.91).
Vor wenigen Jahrzehnten beschäftigte der heutige Siemens-Konzern (damals Siemens-Schuckert AG) Zwangsarbeiterinnen, die als Gefangene des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück unter unvorstellbaren Bedingungen bei Siemens arbeiten mußten. Wie in anderen Konzentrationslagern galt auch in Ravensbrück die Parole: „Vernichtung durch Arbeit“. Bis zur Befreiung der gefangenen Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück, am 30. April 1945, wurden schätzungsweise 133.000 Frauen und Mädchen aus über 20 Ländern eingeliefert, die meisten aus Polen, Deutschland und der Sowjetunion: „Politische“, Jüdinnen, Bibelforscherinnen, „Berufskriminelle“, Sinti und Roma, Lesben und „Rassenschänderinnen“.
Über 90.000 wurden durch Arbeit vernichtet, wurden erschossen, vergast, zu Tode geprügelt, gespritzt, bei medizinischen Versuchen ermordet. Viele verhungerten. In lagereigenen Produktionsstätten preßte die SS das Letzte aus den Häftlingen heraus, ganze Kolonnen wurden an Betriebe und Güter in der Umgebung „vermietet“. 1943 errichtete die Siemens-Schuckert AG ein firmeneigenes Lager mit Arbeits- und Wohnbaracken in unmittelbarer Nähe des Konzentrationslagers, in dem mehr als 2.000 Häftlinge für die Kriegsproduktion geschunden wurden.
Zwischen 1943 und 1945 kamen etwa 870 Kinder im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück zur Welt. Fast alle sind dort gestorben — verhungert, erfroren. Im Geburtenbuch finden sich ihre Daten — rot ausgestrichen — und Vermerke wie: „Totgeburt“, „Lebensschwäche“. Im Bunker, wie er von den Häftlingen genannt wurde, befanden sich Arrest- und Folterkammern. Hier (ver)hungerten Frauen wochen- und monatelang in Dunkelhaft, hier hielten die SS-Aufseherinnen einmal wöchentlich ihre Prügelorgien ab.
Heute, mehr als 46 Jahre später, lassen sich viele Fragen stellen: Was haben die Menschen, die damals rings um das KZ Ravensbrück lebten, von den Greueltaten der Nazis mitbekommen? Wie haben sie auf die Todesschüsse reagiert, auf die Sirenen, die in den letzten Monaten vor der Befreiung zwei- bis dreimal nachts aus dem Lager heulten, um die Schreie aus den Gaswagen zu übertönen? Was haben sie untereinander gesprochen, wenn wieder einmal die „ewig meterhohen Flammen“ aus dem Schornstein des Krematoriums schlugen und der Wind den „süßlichen Geruch“ und die Asche zu ihnen hinübertrug? Haben sie die Wäsche von der Leine geholt und die Fenster geschlossen? Und vor allem: Wie gehen die Schuldigen, wie geht die Siemens-Schuckert AG, der heutige Siemens-Konzern, mit der auf sich geladenen Schuld um?
Waltraud Blass, eine der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Insassin des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück, wagte den Schritt der gerichtlichen Klage auf Wiedergutmachung für das ihr angetane Leid. Ein Schritt, der ihr mehr als Achtung und Respekt zubilligt, da Waltraud Blass sich somit in ein ungewisses Wagnis begibt, ohne dabei zu wissen, wie mit ihr und ihrer Geschichte von Gericht und Siemens-Konzern umgegangen wird.
Nachdem ihre Klage bereits vor wenigen Monaten in der ersten Instanz abgewiesen worden war, hatte nun das Oberlandesgericht (OLG) München über die Klage zu entscheiden. Erneut verlor Waltraud Blass ihren Prozeß gegen den Siemens- Konzern. Das OLG München wies ihre Berufung gegen das Urteil des Landgerichts München zurück. Der 20. Senat berief sich, wie die Vorinstanz, auf die Verjährung etwaiger Ansprüche. Somit folgte auch das OLG München der Auffassung der Siemens-Verteidiger, die eine Einstellung des Verfahrens unter Verweis auf die inzwischen nach rechtlichen Gesichtspunkten eingetretene Verjährung beantragt hatten.
In dem Prozeß ging es Waltraud Blass mehr um eine moralische als um eine materielle Wiedergutmachung.
Indem ihre Klage abgewiesen wird und indem sich die Verteidigung des Siemens-Konzerns auf Verjährung beruft, wird vor allem der moralischen Wiedergutmachung eine Absage erteilt, die sich einreiht in eine Handhabung deutscher Justiz mit NS-Verbrechen, wobei immer wieder Opfer und Täter verwechselt werden — so hat es zumindest den Anschein. So ist Katharina Blass nicht das erste Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, deren Ansprüche auf Wiedergutmachung abgewiesen werden, während zugleich Gerichtsverfahren gegen NS-Verbrecher wegen deren „Verhandlungsunfähigkeit“ eingestellt werden.
Simon Wiesenthal bezeichnet die Prozesse gegen NS-Verbrecher als „Warnung an die Mörder von morgen“. Der Umgang der deutschen Justiz mit den NS-Verbrechen und NS- Verbrechern, aber vor allem auch der Umgang der NS-Verbrecher mit der eigenen Schuld — wie es der Siemens-Konzern am Beispiel Waltraud Blass deutlich macht — gibt wenig Grund zur Hoffnung, daß die „Mörder von morgen“ Anlaß haben müßten, bereits heute gewarnt zu sein. Eher ist das Gegenteil der Fall... Hermann Theisen, Bad Münster am Stein-Ebernburg
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